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348 Psychische Studien. XIII. Jahrg. 8. Heft (August 1886.)
reich, jedoch zumeist nur als Varianten zweier Hauptansichten
zu betrachten.
Die eine derselben sieht in dem Gedankenlesen einen
rein physikalischen oder physiologischen Vorgang
und führt denselben auf eine blosse Fähigkeit des
Empfindens und Deutens der, durch jeden Akt des Denkens
im menschlichen Körper veranlassten, und unbewusst vor
sich gehenden, äusserst zarten Vibrationen zurück.
Die Vertreter der zweiten Anschauung hingegen
legen dem Gedankenlesen einen mehr psychischen
Charakter bei, und wollen diese Erscheinung durch Annahme
einer unbewussten psychischen Strahlung oder einer
besonderen Art elektrischer Induktionswirkung erklären.
Die Publikationen über Untersuchungen der beim Gedankeniesen
sich abspielenden Vorgänge haben bereits eine
bedeutende Zahl erreicht; man sucht die Frage durch
philosophische Betrachtungen und hochgelehrte mathematische
Ableitungen zu lösen, ohne dass es jedoch bisher
auf diesem Wege gelungen wäre, eine allgemeine gültige
und alle Einwürfe befriedigende Erklärung zu finden.
Beide Parteien, die Vertreter der mechanischen sowohl,
als auch jene der psychischen Theorie, weichen keinen Zoll
breit von ihren Positionen zurück, und glaubt jede derselben
in ihrer Anschauung die einzig richtige Erklärung
sehen zu müssen. In diesem hartnäckigen Vertheidigen
der eigenen und Anfeinden der gegnerischen Theorie, übersieht
aber die grosse Mehrzahl der Kämpen die Möglichkeit
einer Berechtigung beider Ansichten.
Eine grössere Anzahl genau konstatirter Fälle von
Gedankenübertragung bei direkter Berührung zwischen
Gedankenfasser und Gedankenleser ist noch nicht als
Beweis dafür anzusehen, dass das Gedankenlesen nur durch
mechanische Vorgänge vermittelt wird und nur ein solches
Gedankenlesen vorkommen könne; denn es ist hiedurch
die Möglichkeit einer psychischen Einwirkung keinesfalls
widerlegt.
Als einzig richtige und giltige Erklärung kann demnach
die mechanische Theorie nur dann aufgefasst werden,
wenn die Trennung der beiden Versuchspersonen, oder vielmehr
das Aufheben der direkten Berührung zwischen denselben
, eine Gedankenübertragung absolut unmöglich macht.
Mit demselben Rechte sind aber beglaubigte Fälle von
Gedankenübertragung zwischen zwei nicht in körperlichem
Contakt stehenden Personen als Beweis eines nicht mechanischen
Gedankenlesens zu betrachten; abgesehen davon,
ob dasselbe durch eine „psychische Strahlung", eine elek-
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