http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1886/0378
BIO Psychische Studien. XIlT. Jahrg. 8. Heft, (August 1886.)
Inhalt uneres Lebens, der wahre Inhaltsstamm, aus dem
alle anderen Lebensinhalte hervorwachsen, von dem sie
gewissermaassen ihre Inhaltigkeit zu Lehen tragen . . .
Dieser Complex von Gefühlen belebt in uns erst den Begriff
des höchsten Wesens und steigert ihn zu der Idee des
lebendigen Gottes/' —
Hier setzen wir abermals ein, um die aus dem Vorhergehenden
gleichsam durchschimmernde Ansicht des geschätzten
Verfassers zu bemängeln, als ob wir im Gefühl
unseres persönlichen Wesens schon den ganzen vollen Inhalt
der ewigen Lebenssonne erschöpft hätten. Es ist
dieses eine Selbsttäuschung. Nehmen wir an, diese ewige
Lebenssonne wäre eine punktuelle Einheit, aus welcher nach
allen Richtungen ihrer potentiellen Kugelform hervor
sich unendliche individuelle Punkte oder Strahlen aus der
Peripherie dieses Mittelpunktes entwickelten, so würden alle
diese «rom einheitlichen Mittelpunkt ausgehenden Punkte
oder Strahlen doch nur in je einem winzigen Berührungspunkte
den gemeinsamen Mittelpunkt berühren und mit ihm
verbunden sein und bleiben, niemals aber wird ein jeder
dieser Theilpunkte oder Theilstrahlen den Mittelpunkt für
sich ganz, sondern ihn nur gleichsam im Rücken als
Hinterhalt oder als Lebensborn in seinem Grunde haben,
aus welchem durch die Berührungsstelle Wasser des
Lebens für alle emporquillt. Unser individuelles Theilge-
fühl wird daher niemals den unendlichen Mittelpunkt ganz
empfinden und als ganze gegenwärtige Empfindung in sich
haben und so zum Bewusstsein bringen können, sondern
seines Theils geradezu ausser ihm sein und mit ihm nur
im unendlichsten Theile seiner Theilgrösse wirklich zusammenhängen
. Polglich wird Gott als Urgrund unseres
Wesens gleichzeitig Urgrund aller anderen Theilwesen
sein und, soweit er es für diese ist, für unser Wesen ein
Ding an sich sein, dessen potentielle Kraft nicht voll in uns
über- und aufgeht. Die ganze Unendlichkeit minus unserm
eigenen individuellen Theile wird uns von Gott unbekannt,
unbewusst und ungefühlt sein und bleiben. Wir werden
höchstens nur aus Analogie von uns auf andre Theilwesen
schliessen können, aber doch immer nicht ganz genau
deren Stellung, Verhältnisse und Grösse ihrer Verknüpfung
mit dem Urgründe ermessen können. Sonach
würde das Kantische „Ding an sich" noch in Gott und
seinem spezifischen Lebens- und Geisterreiche für uns bestehen
bleiben, in unserem eigenen Seelenleben aber bis zu
unserem Berührungspunkte mit Gott im unmittelbaren Gefühl
des Lebens verschwinden. Man sieht aus dieser ein-
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1886/0378