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Margaretha A. Kr.: Charakteristik einer Hellseherin. 387
Natur so stiefmütterlich mit den Vorzügen bedachte, die
im Kampf um's Dasein die Bürgschaft einer menschenwürdigen
Existenz gewähren, und es regte sich in ihr ein,
wenn auch von Demuth gedämpfter, Groll gegen den Schöpfer.
Wäre ihr von einer Seite die ganze Glorie des Himmels
und von der andern ein armes, hilfloses Wesen erschienen,
so hätte sie sich von dem göttlichen Glänze abgewendet,
um freudig dem Leidenden Beistand zu leisten. Alle
Melodien der Engelschöre wären bei ihr nicht im Stande
gewesen, die allmächtige Wirkung eines Hilferufes zu
übertönen. So war auch ihr ganzes Leben der Bethätigung
des Erbarmens gewidmet. Meinen Vater heirathete sie,
weil er sich demselben am meisten empfahl. Sie nahm sich
des armen, heimathlosen, entlassenen Soldaten an, während
sie Reichere mit dem Bemerken von sich wies, es könne
ihnen an einem glänzenderen Glücke nicht fehlen.
Mein Vater war schon längst gestorben und ich kaum
der Kindheit entwachsen, als im Jahre 1866 die österreichischen
Truppen an unseren Fenstern vorübermarschirten;
doch besinne ich mich noch, wie meine Mutter den Zug
mit feuchten Blicken anstarrte, während ein nie enden
wollendes Stöhnen sich aus ihrem gepressten Herzen entrang
. In ihrer erschütternden Trauer, mit dem schmerzhaften
Zuge um den Mund, glich sie der Niobe, der die eigenen
Kinder vor den Augen tödtlich getroffen werden.
Im Jahre 1871, nachdem sich schon der anormale
Seelenzustand bei ihr eingestellt hatte, lief sie einst in die
Caserne, um einen uns befreundeten Officier zu beschwören,
er möge sogleich den Vorgesetzten melden, dass einige
Soldaten in dem Augenblick ungerechterweise misshandelt
werden. Statt dessen begleitete er meine Mutter wieder
nach Hause.
Ein Gefängniss für kleinere Vergehen und Untersuchungshaft
war von unserem Hause aus sichtbar, und an
demselben hafteten oft ihre weitaufgerissenen Augen, während
sich die Lippen ununterbrochen bewegten und vor sich hin
murmelten. Auch dahin hat sie oftmals eilen wollen; nur
mit grosser Anstrengung gelang es mir, sie davon abzuhalten
.
Ende 1871 gingen wir in's Ausland. Die nächsten Jahre
vergingen ruhig für mich: ich lag meinen Studien ob. Wenn
ich von den Büchern aufschaute, sah ich manchmal meine
Mutter am hellen Tage wie eine Nachtwandlerin vor
nur. Solche Augen müssen nur die Schlafenden haben,
wenn man ihre Lider bebt. Man sah denselben an, wie
sie für keinen von der Aussemveit kommenden Lichtein-
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