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390 Psychische Studien. XIII. Jahrg. 9. Heft. (September 1886.)
dringen wollen, weil sich in Deinem Leben nicht Vieles
finden lässt, das gegen Dich spricht." — „Der N. N. soll
aber fliehen und nicht zuhören, nicht wahr?" — Sie lächelte
und nickte mit dem Kopfe. —
Sobald mir die Gelegenheit geboten war, einen der
Betreffenden zu sehen, so wusste ich auf unmerkliche Weise
so viel herauszulocken, dass ich mit vollkommener unerschütterlicher
Bestimmheit die Ueberzeugung gewann, dass,
was ich lange Jahre hindurch an meiner Mutter bemerkt
und für einen seltenen traumartigen Zustand ohne höhere
13edeutung gehalten hatte, ein hellseherischer war.
Einmal wurde ein über die Maassen übles Gerede über
mich in Umlauf gesetzt. In der Nacht hatte ich selbst
einen Traum, hörte die Beschuldigungen und sah mit
meinen Augen die Personen, welchen in erster Linie dieselben
vorgebracht wurden. Der Traum erschreckte mich,
jedoch es war ja nur ein Traum, und ich suchte meine
unwillkürliche Bangigkeit zu verscheuchen. Wie war mir
aber zu Muthe, als ich an dem Tage meine Mutter schluchzen
sah, als sie mich mit dem Rufe umarmte: „Mein armes, liebes
Kind!" Sie verkehrte mit Niemandem, hatte mit Niemandem
gesprochen, und durch meinen Traum wusste ich, wie ich
sie ausfragen sollte. Es stimmte alles überein. Sie ass
den ganzen Tag nichts und weinte unaufhörlich. Bald
besuchte ich eine junge Dame meines Alters und traf nur
ihre Mutter zu Hause. Ihr Gesicht war bei meinem Erseheinen
schmerzlich bewegt, und ich erhielt dadurch eine
neue Bestätigung des Vorgefallenen. Ich that noch mehr:
ich forschte darüber eine Bekannte von mir ganz unverholen
aus: „Hat N. N. das von mir gesagt?" Sie nickte beistimmend
. Ich legte ihr auseinander, was zu meiner Rechtfertigung
nothwendig war, worauf sie mir erwiederte: „Er
hat neulich bekannt, dass er nur eine Vermuthung ausgesprochen
habe, welche sich auf einen Umstand stützt, der
anerkanntermaassen noch als kein vollgültiger Beweis angeschen
werden darf." Meine Mutter selbst war beruhigter,
ich fragte sie von Neuem aus und erfuhr somit, dass sie
auch die weiteren mildernden Gespräche, welche über die
Angelegenheit geführt wurden, wie gewöhnlich, im Geiste,
ganz genau bis in die kleinsten Einzelnheiten gehört hatte.
In den eigentlichen Verhören, welche ich mit ihr vorzunehmen
pflegte, beobachtete sie immer die äusserste
Zurückhaltung; selbst wenn es sich um Warnungen handelte,
schien ihr das Plaudern ein Missbrauch.
Zwischen ihrem früheren und jetzigen Zustand bemerkte
ich den Unterschied, dass, während sie dasjenige, was
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