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392 Psychische Studien. XIII Jahrg. 9. Heft. (September 1886.)
vorzuzeichnen, mit welcher ich operiren sollte, um Reibungen
zu vermeiden.
Und diese Menschen, über deren Behandlung sie sorgfältig
mich unterrichtete, hatte sie nicht ein einziges Mal
zu Gesichte bekommen!
Ebenso begleitete sie Personen, die mir theuer und
werth, ihr aber im gewöhnlichen Leben völlig unbekannt
waren, selbst zu solchen Eendezvous, wo es ihnen am
liebsten gewesen wäre, ungesehen zu sein. Es ist mir
unmöglich zu beschreiben, wie sich auf dem Gesichte dieser
unfreiwilligen und peinlichst berührten Zuschauerin die
verschiedenen Gefühle ausdrückten, und ich erschrak über
die elementare Gewalt, womit sie von denselben ergriffen
war. So hatte ich jederzeit von der kleinen Welt, in deren
Bereich meine Individualität als ein Factor mitwirkte,
und mit welcher mein Schicksal verknüpft war, ein treues
Spiegelbild vor den Augen, und oft hatte ich Gelegenheit,
durch mein auf solche Weise erworbenes Wissen ein ergötzliches
Staunen zu erregen. Es genügten anscheinend
harmlose und gleichgültig klingende allgemeine Andeutungen,
um die Betreffenden zu verwirren.
In die Zukunft zu schauen, vermochte meine Mutter
eigentlich nicht; ihre Prophezeihungen konnten nur für die
nächsten Stunden oder Tage gelten, je nach den Umständen,
denn sie beruhten nur auf der Kenntniss der Gegenwart
und der wechselnden Stimmung der Menschen. Ich will
einige Beispiele anführen.
Einmal kündigte sie mir die Ankunft eines Besuches.
Ein ander Mal sassen wir beisammen, als Jemand klopfte.
Meine Mutter sagte: „Der Diener deines Schülers kommt,
um die heutige Lektion abzusagen. Dein Schüler hat in-
dess bereut, ihn hingeschickt zu haben. Wir öffnen nicht;
Du wirst wie gewöhnlich hingehen, und er wird zu Hause
sein!" — Ich sah von dem Fenster aus den Diener seinen
Bückweg antreten; Abends machte er ein komisches Gesicht
, als er mich erscheinen sah, aber Niemand sprach ein
Wort darüber.
So hat sich auch nach ihrem Tode etwas erfüllt, was
sie mir vorhergesagt hatte, aber nur weil sie die Gesinnung
einer Dame kannte, welche sie jedoch niemals gesehen,
und von welcher sie auch durch Andere nichts erfahren
hatte.
(Schluss folgt.)
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