http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1886/0454
446 Psychische Studien. XIII. Jahrg. 10. Heft. (October 1886.)
bewirkt werden. Deshalb waren auch die Augen meiner
Mutter gleichsam nach innen gekehrt (im Anfang zwar
häufiger als später), und ihre Ohren lauschten. Aber was
sie sah und hörte, war kein Traum, wie ich mich während
der letzten neun Jahre ihres Lebens (15 Jahre dauerte
dieser anormale Zustand) überzeugen konnte, sondern Wirklichkeit
,
Auch sagt Preyer, dass keine Somnambule ohne Hilfe
der Augen gewöhnliche Schrift habe lesen können. Meine
Mutter auch nicht, wo es sich um ein Buch oder gleichgültige
Schreiberei handelte.
Einst aber hat sie beim Empfang eines Schriftstückes,
um die schmerzliche Wirkung einer Enttäuschung zu lindern
, mich über dessen Inhalt benachrichtigt, noch bevor
ich das Siegel erbrach. Und ein anderes Mal, als ich
heimlich im Begriff stand, auf einem Blatt Papier ihre
eigenthümliche seelische Thätigkeit zu schildern, erhob sie
sich von ihrem Sitz, riss mir den Bogen, den sie keines
Blickes würdigte, aus den Händen und fragte tiefverletzt:
„Ich leide genug, aber Andere brauchen es nicht zu
wissen."
Das Lesen des Geschriebenen ohne Hülfe der Augen
war bei ihr eigentlich nichts Anderes, als ein Gedankenlesen
, und von allen seltenen Begabungen meiner
Mutter war diese für mich die allerlästigste.
Im Allgemeinen lässt sich so viel darüber sagen:
Gleichgültige Gedanken entzogen sich ihrem Seherblickef
oder, wenn ich mich so ausdrücken darf, sie besassen nicht
auf ihren inneren Sinn die Wirksamkeit eines Agens, wie
geschmacklose Stoffe keine Geschmacksempfindung erregen.
Bezogen sich aber meine Gedanken auf sie oder au
mich, auf ein geliebtes oder verhasstes Wesen, berührten
dieselben auch mein Herz, so blieb ihr kein einziger
verborgen.
Ich plagte mich einst mit der Erwägung, ob ränkesüchtige
und gewaltthätige Menschen vom natürlichen
Standpukte aus nicht höher stehen, als beschränkte rechtschaffene
, welche das Schlecht nicht thun, weil ihnen zu
jedem Streben die nöthige Spannkraft fehlt. Dabei dachte
ich an alles erlittene Unrecht, und es schien mir trostlos
seine Feinde nicht verachten zu lönnen.
Da unterbrach meine Mutter jene herzquälenden
Grübeleien: „Wer besser, wer schlechter ist, was geht Dich
das an? Und Du schafftt Dir noch ein Leiden damit."
So litt ich ebenfalls unsäglich, wenn mir die Fehler
eines geliebten Wesens vor der Seele schwebten* Sie sagte
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1886/0454