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448 Psychische Studien. XIII. Jahrg. 10. Heft. (October 1886.)
das sie liebte und achtete, hochschwanger zu uns kam und
sie selbst aus ihrem Zustand keinen Hehl machte, behauptete
meine Mutter doch, es sei eine Krankheit, und als
das Kind zur Welt kam, wollte sie es dennoch nicht
nicht glauben; endlich schob sie die Schuld auf einen unbekannten
Feind der Menschheit, von welchem ich noch
mehr zu berichten habe.
Sie sah und hörte Alles in ihrem Ausnahmezustand,
vermochte aber dennoch nicht die Fäden einer Intrigue zu
verfolgen; sie irrte in das Labyrinth und wusste sich nicht
zurechtzufinden, weil sie an die Schlechtigkeit der Menschen
durchaus nicht glauben wollte. So gerieth sie in einen
inneren Conflict, welchen sie auf eine seltsame Weise zu
schlichten sich bestrebte.
Die meisten Derjenigen, mit welchen sie sich täglich
in ihrem Geiste beschäftigte, waren ihr persönlich unbekannt
, mir natürlich die meisten bekannt; sie kannte im
Geiste aber auch solche, von welchen ich gar nichts wusste,
wen a sie überhaupt in meinem Schicksal irgend eine ßolle
spielten.
Ich durfte aber unaufgefordert ihr von Niemandem
etwas erzählen, „denn" — so äusserte sie sich — „ich besitze
die unglückselige Gabe, selbst mehr zu wissen, als es
mir lieb ist, und es ist eine fürchterliche Verantwortung.
Denke nur, in dem Augenblick, da Du mit mir sprichst,
könnten wir auf übernatürliche Weise von einem Feinde
der Menschheit — dass Gott ihn vernichte! — belauscht
werden. Durch mich könnte er es erfahren, durch mich am
leichtesten, drum schweig!" — Dieser Feind der Menschheit
ward auf einmal der Sündenbock für alles mir zugefügte
Unrecht. Alle Diejenigen, welche in die Sphäre ihrer übernatürlichen
Seelenthätigkeit kamen, Freund oder Feind,
bedeckte meine Mutter mit dem Mantel ihrer Liebe, und
selbst ihr heftiges Schelten war eigentlich nur ein
Schmerzensruf. Der Feind der Menschheit aber hatte an
unser Aller Schwächen und Elend Schuld, er hatte seine
Freude daran, unsere Herzen zu quälen.
„Kennst Du ihn?" fragte ich sie. — „Ich sollte ihn
kennen! Würde ich ihn kennen, ich bin nur ein Weib, aber
den würde ich mit den eigenen Händen erwürgen!" Dabei
sah sie so fürchterlich aus, dass ich mir sagen musste,
meine Mutter könne selbst auch hassen. Aber nur — ein
Unbekanntes. Wäre dieser vermeintliche Feind vor sie
getreten, so hätte sie ausgerufen: „Die arme Seele!" wie
sie sonst alle Bösewichter nannte. Ein Vorbild echter Weiblichkeit
, hätte sie mit Antigone und der Priesterin Theano
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