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i20 Psychische Studien. XIV. Jahrg. 3. Heft. (März 1887.)
Bewusstseinsinhalt eines Menschen in einem gegebenen
Augenblicke, so bestehen wir Alle von der Geburt bis zum
Grabe aus ununterbrochen an einander sich reihenden
Ichen, von denen jedes ein anderes ist. Auch bei diesem
Sachverhalte können wir jedoch noch sagen, dass ,Icti immer
wieder ,Ich\ und dass unsere Persönlichkeit eine identische
sei. Die Identität besteht eben in der ^unterbrochenen
Kette dieser verschiedenen Iche.
Aber wir würden vermuthlich mit dieser Fassung des
Ichs die Meinung des Herrn P. nicht treffen. Wenigstens
wüsste ich damit den Begriff der Unveränderlichkeit nicht
zu vereinigen, auf welchen der ganze Beweis als sein Hauptziel
lossteuert.
Herrn iVs ,Ich' muss also etwas Anderes bedeuten. Ist
es vielleicht jenes Allgemeingefühl, das bei allem sonstigen
Wechsel unserer Vorstellungen sich so ziemlich gleich bleibt,
das aber freilich nicht immer vorhanden ist, besonders nicht
in Zuständen hochgradig gespannter Aufmerksamkeit? Oder
meint Herr P. nur die allgemeine Thatsache der einheitlichen
Zusammenfassung alles zumßewusstseinGekommenen?
Aber auch diese Thatsache erleidet in den zahlreichen Fällen,
wo geistig Kranke auf längere Zeit, oder auch in regelmässigem
Wechsel mit ihrem gesunden Zustande, sich für
ganz Andere halten, als sie sind, die beträchtlichsten Ausnahmen
. Es werden dann zwar alle gesunden Zeiten einerseits
, alle kranken Zeiten andererseits einheitlich aufeinander
bezogen, aber von den einen zu den anderen besteht in der
Seele der betreffenden Persönlichkeiten selbst nicht die
mindeste Verbindung.
Hätte man nicht erwarten sollen, dass Herr P. dem für
seinen Beweis so wichtigen Begriffe des Ichs etwas mehr Aufmerksamkeit
gewidmet hätte? Aber angenommen auch, er
habe es gethan, un<1 wir wüssten, was wir darunter verstehen
sollten, so kommt nunmehr erst die bedenklich brüchige
Stelle seiner Himmelsleiter.
„Die Identität meiner Persönlichkeit wird durch die
Erinnerung sofort festgestellt." Ich will Herrn P. nicht
nochmals mit den schon erwähnten Fällen der Persönlichkeitsentfremdung
unbequem werden, sondern nur Folgendes
bemerken.
Wenn die Erinnerung ganz ausdrücklich, für das Mittel
erklärt wird, die Einheitlichkeit der Persönlichkeit, noch
dazu sofort, festzustellen, dann ist auch die Folgerung
unvermeidlich, dass die Persönlichkeit nur soweit reicht,
als die Erinnerung, und dass sie Alles von sich aus-
sc hl i es st, was von der Erinnerung nicht erreicht wird.
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