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180 Psychische Studien. XIV. Jahrg. 4. Heft. (April 1887.)
ihrem leiblichen Organismus, sondern ist eine aus der gleichsam
elektrischen Allgemeinerscheinung des Geistes sich
an und zu einem bestimmten Organismus erst entwickelnde
seelische Lichtflamme. Alle drei sind aber für einander
sichtlich vorbestimmt.*) Die Flamme ist nicht fest wie die
Kerze, aber doch noch sinnlich greifbar und fühlbar, man
kann sich an ihr verbrennen, — das Licht derselben aber
wirkt nur noch auf die feinsten Nerven unseres Organismus,
die unserer Sehorgane ein. So ähnlich ist die Seele in ihrer
Wirksamkeit scheinbar noch materieller Natur und mit
unseren gröberen Sinnen wahrnehmbar und gleichsam noch
fassbar, aber deshalb doch nicht genau identisch mit ihrem
sich durch sie allmählig auflösenden Organismus, so wenig
die Flamme genau identisch ist mit der Kerze. Und ebenso
wie das ausstrahlende Licht nicht genau identisch ist mit
der Flamme, ebensowenig ist der Geist des Menschen genau
identisch mit der Seele. Sie alle existiren nur an ihrem
Orte und zu ihrer Zeit, bestimmt durch die Wechselwirkung
des grossen Ganzen und seiner göttlichen Alleinheit und
weisheitsvollen Zweckbestimmung. Es giebt einen Allzusammenhang
der Stoffe und Kräfte — aber für unsere
Sinneswahrnehmung bleiben beide geschieden; sie verfolgen
eben die unendlichen Reihen ihrer speziellen EntWickelungen.
Wer also wie Prof. Jäger die Seele auf sinnliche Weise
sucht, sie gleichsam nur riechen und schmecken will, der
könnte sie mit demselben Rechte auch hören, sehen und
überhaupt tastend fühlen wollen. Da aber die Seele und
der Geist doch an sich selbst nicht das sinnlich Gesehene,
Gehörte, Gerochene u. s. w. sein könnte, weil diese niemals
identisch mit unserer selbst höchst organisirten Materie,
sondern eben etwas Seelisches und Geistiges für sich sind,
d. h. über die individualisirte Materie, dieselbe organisirend,
beständig hinauszugreifen und sich von jeder spezifischen
Stoffverbindung loszulösen und an andere fühlend, denkend,
wollend zu ketten vermögen, wie ja aus unserer taglichen
Nahrungszufuhr erhellt, so können wir niemals die Identität
der bloss gerochenen Seele mit der vollen wirklichen Seele
zugeben, welche eben durch alle sinnlich-materiellen Erscheinungen
hindurch waltet und darüber hinaus noch bedeutend
mehr ist als organisch wahrnehmbarer Stoff. So
ist auch eine seelische Flamme, welche die Kerze des Organismus
langsam in sich verzehrt, schon bedeutend mehr
als diese Kerze, ja sie trägt schon das geistige Licht in
*) Man vergl. hierzu die Note S. 38 und 39 des Januar-Heftes
1883 der „Psjcb. Studien."
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