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194 Psychische Studien. XIV. Jahrg. 5. Heft. (Mai 1887.)
Staates nehmen wollten. Diese in der Aufklärungsperiode
aufgestellte Hypothese seheitert aber daran, dass die zuverlässigsten
Zeugen des Alterthums die Fähigkeit jener
Priesterinnen, wirklich in die Zukunft zu sehen, bezeugen.
Die alten Historiker, Dichter und Philosophen versichern
einstimmig, dass die Orakel von der höchsten Bedeutung
für das Wohl Griechenlands gewesen sind. Gegen die
Betrugstheorie spricht auch die lange Dauer der Orakel;
denn Irrthum und Betrug sind kurzlebig. Der Ursprung
der Orakel verliert sich in das graue Alterrhuin, sie haben
sich aber bis in die christliche Periode hinein erhalten, —
erst Kaiser Theodosius schloss den delphischen Tempel, —
und religiöse Gründe sind es, die zu ihrer Abschaffung
führten. Nach Macrobius1) bestand das Orakel zuDodona
schon 1400 v. Chr.; schon Achilles ruft es an 2), und Herodot
sagt, es seien ägyptische Priester gewesen, die nach Dodona
das Weissagen brachten3).
Noch mehr spricht gegen die Betrugstheorie das hohe
Ansehen, welches die Orakel genossen, und zwar nicht etwa
beim abergläubischen Volk, sondern bei den grössten Philosophen
und Gelehrten: Piaton, Aristoteles, Sokrates, Hippokrates,
Xenop/wn, Plutarch, Strabo, Aelian, Pausanias, Apollodorus,
Homer, Lucian, Diodorus, Varro} Tacitus, Sueton, Livius,
Dionysius von Halikarnass, Florus, Plinius, Vergilius, Juvenalis,
Ovidius etc. — sie alle glaubten an die Orakel, und waren
von der höchsten Achtung für sie beseelt. Sogar die
Peripatetiker, die jede andere Art von Weissagung ver-
warfer, Hessen doch die Göttlichkeit der Orakel gelten4).
Piaton sagt mit Bezug auf den ekstatischen Zustand der
weissagenden Priesterinnen: — „Nun aber werden der Güter
grösste durch den Wahnsinn uns zu Theil, der gewiss
durch göttliche Huld uns verliehen wird; denn die Seherin
zu Delphi und die Priesterinnen zu Dodona erzeugten im
Wahnsinn Hellas viel Gutes, so im Besonderen, wie im
Allgemeinen, im besonnenen Zustand aber wenig, oder nichts.
Und wenn wir anführen wollten, dass die Sibylle und
andere mit Hülfe der begeisterten Seherkunst vieles, indem
sie vielen das Zukünftige voraussagten, in das rechte Geleise
brachten, so würden wir wohl, Jeglichem Bekanntes erwähnend
, zu weitläufig werden.. . . Die Alten erklären den
Wahnsinn für etwas Schöneres, als die Besonnenheit, indem
*) Macrobius: „Satumal.u I. 7. 28.
*) Ilias XVI. 233.
») Herodot II. 54. 57.
4) Cicero „de div." I. 3. IL 48.
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