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Carl du Prel: JMe Orakel.
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Plutarch gewesen, die den Tempel mit Reichthümern der
Griechen und Barbaren gefüllt haben. Die Geschenke,
welche Crösus allein nach Delphi schickte, nachdem er
durch eine angestellte Probe die Zuverlässigkeit dieses )
Orakels erkannt hatte, hatten einen Werth von zwanzig 1
Millionen. Herodot hat uns ein ausführliches Verzeichniss 1
dieser Geschenke aufbewahrt*). Verschiedene Staaten unterhielten
in Delphi eigene Gebäude zur Aufbewahrung ihrer
Geschenke; der Kaiser Nero, der die Orakelstelle zerstörte,
liess von dort 500 eherne Bildnisse von Göttern und
Menschen hinwegführen2).
Unter allen diesen Umständen ist es uns verwehrt, die
Orakel aus blossem Priestertrug einerseits und aus dem
Aberglauben der Befragenden andererseits zu erklären
. Es wäre nicht wissenschaftlich, wollten wir den
Orakeln die Gabe der "Weissagung nur darum absprechen
, weil diese c^r heutigen Denkmode widerspricht.
Wir würden nicht nir unhistorisch, sondern auch un-"~ *
psychologisch verfahren, wollten wir annehmen, dass eins
Volk, welches auf einer seither nicht mehr erreichten !
Culturstufe stand, durch seine Priester drei Jahrtausends
hindurch sich hätte betrügen lassen. Jedenfalls aber würde
eine solche Hypothese erst dann einigermaassen berechtigt
sein, wenn jede andere sich als unzulänglich erweisen würde.
Erst wenn wir die Orakel mit ehrlichen Priestern nicht
erklären können, dürfen wir zur Unehrlichkeit derselben
greifen; erst wenn der Glaube an die Orakel mit Verständigkeit
ihrer Verehrer nicht vereinbar ist, dürfen wir
zu dem bedenklichen Mittel greifen, den grössten griechischen
Philosophen den Verstand abzusprechen. Aus dem stark
entwickelten Drange des abergläubischen Volkes nach Erforschung
der Zukunft kann man nicht die Entstehung der
Orakel — die zudem ursprünglich nicht vom Volk, sondern
von den Staatslenkern benutzt wurden — erklären, sondern
höchstens die eifrige Benutzung der schon bestehenden
Anstalten.
Es deutet auf den wahren Sinn der Orakel, dass
überall, wo solche bestanden, Quellen, oder aus der Erde
aufsteigende Dämpfe za finden waren, aus welchen man
die Weissagungsgabe erklärte. Daraus ist auch das Periodische
bei manchen Orakeln zu erklären; der Betrug dagegen
, als ein unveränderlicher Faktor, würde auch eine
stetige Thätigkeit der Orakel erfordern. Manche Orakel
*) Herodot I. 50—53.
2) Pausanias „Phok." 11. „Phok." 7.
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