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Carl du Prel: Die Orakel.
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Phoemonoe, die erste Priesterin zu Delphi, wird als Erfinderin
des Hexameters genannt. Diodor sagt ferner, dass
die Epigonen die böotische Stadt Tiphossäon nahmen und
plünderten; ßaphne, die Tochter des Sehers Teiresias, die in
ihre Gewalt fiel, wurde einem Gelübde gemäss als Kriegsbeute
nach Delphi dem Grotte geweiht. Diese war des
Weissagens nicht weniger kundig, als ihr Vater, und durch
den Aufenthalt in Delphi steigerte sich noch ihre Kunst.
Sie schrieb viele Orakel in sehr kunstreicher Form; selbst
Homer soll aus ihren Gedichten sich Manches angeeignet und
seine Werke damit geschmückt haben. Weil sie aber oft
von göttlicher Begeisterung ergriffen wurde und dann weissagte
, nannte man sie Sibylle; denn Begeistertsein heisst
CißvXZalveiv.1) Endlich sagt Plinius kurz, dass der Hexameter
aus Delphi stamme.8) Auch darin liegt eines der vielen
Anzeichen, dass die Priesterin somnambul war; denn auch
bei den modernen Somnambulen ist es eine häufige Erscheinung
, dass sie in Versen sprechen, und zwar auch dann,
wenn es im Wachen ganz ausserhalb ihrer Fähigkeiten liegt.
Medicinalrath Schindler behandelte eine Kranke, die sehr
viel in Versen sprach, z. B. eine lange Ode auf Friedrich
Wilhelm III., und ein Fieberkranker machte Verse über alle
möglichen Gegenstände, von denen er nach dem Erwachen
nichts mehr wusste; auch von der heiligen Hildegard wird
erzählt, dass sie zur Ehre Gottes Hymnen sang, die sie nie
erlernt.8) Das Sprechen in Versen finden wir auch ausserhalb
der Orakel bei den Somnambulen des Alterthums.
Im Tempelschlaf erschienen den Kranken die geträumten
Heilmittel entweder in ihrer Gestalt, oder in Symbolen, oder
die Schlafenden sprachen in Versen davon.4) Nach Apulejus, \
der sich auf Varro beruft, wurde den Einwohnern von \
Tralles der Ausgang des mithridatischen Krieges von einem \
Knaben prophezeit, der in ein Wasser^efass schaute — die 1
Visionen im Wasserglas kommen noch heute vor —
und dann in 160 Versen die Zukunft schilderte.5) Erst
in späterer Zeit kam die Prosa bei den Orakeln in Anwendung
, doch sprach noch zu Plutarch's Zeiten die Pythia
manchmal in Versen.6)
(Schluss folgt.)
*) Diodor. IV. 66. — *) Plinius „H. N." VII. 205. — *) Schindler:
„Das magische Geistesleben" 220. 221. — 4) Derselbe: 256. 257. —
5) Apulejus: „de magia." — *) Cicero „de div." II. 56. — Plut. „Cur
Pythia* etc.
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