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294 Psychische Studien. XIV. Jahrg. 1. Heft. (Juli 1887.)
Die Orakel.
Von Dr. Carl da Prel in München.
III«
(Schluss von Seite 259.)
In der betreffenden Abhandlung behandelt Plutarch die
aufgeworfene Frage: warum die Pyihia die Orakel nicht
mehr in Versen ertheile, sehr ausführlich. Wer nämlich
in den Orakelsprüchen Inspirationen des Gottes sah,
musste sich natürlich schon damals wundern, dass die Verse,
wie eben auch bei unseren Somnambulen, oft so herzlich
schlecht waren und keineswegs der Anforderung entsprangen,
die man gerade an den Gott der Sänger stellen durfte.
Daher steht die Frage Plutarch's in Zusammenhang mit der
anderen Frage: aus welcher Quelle die Orakel
kommen, und wurde somit sehr wichtig. Plutarch aber,
der in der Weissagung eine transcendentale Eigenschaft
der menschlichen Seele erkannte, konnte
folgerichtig in seiner Werthschätzung der Orakel durch die
Minderwerthigkeit der Verse nicht erschüttert werden.
Diogenian sagt bei Plutarch, er habe sich oft über die
schlechten und elenden Verse gewundert, in welchen die
Orakel verfasst wurden; Apollo, als Führer der Masen, sollte
sich nicht allein durch Beredsamkeit, sondern auch durch
den Wohlklang der Lieder auszeichnen, ja Hesiod und
Horner übertreffen. Die meisten seiner Orakel seien aber
sowohl in Ansehung des Silbenmaasses, als des Ausdruckes
geschmacklos und fehlerhaft. Es sei eine ausgemachte
Wahrheit, dass die Verse der Orakel schlecht seien, daher
denn auch Viele glauben, Apollo sei nicht der Verfasser
derselben, und es rühre von ihm nur die erste Bewegung
her, die im Uebrigen der Natur jeder einzelnen Prophetin
entspreche. Wäre es eingeführt, dass die Orakel nicht
mündlich, sondern schriftlich ertheilt würden, so würde man
die Buchstaben gewiss nicht dem Gotte zuschreiben, oder
sie tadeln, wenn sie nicht schön geschrieben wären. Stimme,
Ausdruck und Silbeomaass gehörten also wohl nicht dem
Gotte, sondern der Pythia an; der Gott gebe nur die Bilder
und Vorstellungen ein, und zünde in ihrer Seele das Licht
an, dass sie die Zukunft erkenne.
Der Skeptiker wird nun allerdings geneigt sein, zu sagen,
von Frauen Hessen sich andere, als schlechte Verse nicht
wohl erwarten; aber diese Auslegung passt weder auf die
Pythien, noch auf unsere Somnambulen, von welchen,
ihrem Bildungsgrade gemäss, in der Begel überhaupt keine
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