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Carl du Prel: Die Orakel.
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Verse, nicht einmal schlechte, zu erwarten wären. Plutarch
sagt, dass die Priesterin zu Delphi zwar von guter und
ehrlicher Herkunft war und eine Jungfrau von unbescholtenem
Ruf sein musste; aber in dem Hause armer Leute erzogen,
trete sie ohne eine Kunsterfahrung in das Orakel ein; dagegen
werde von ihr im Orakeldienst gefordert, dass sie,
wie auf der Bühne, nicht eine einfache und ungekünstelte,
sondern eine hochtrabende, mit Silbenmaass, Metaphern
und Erdichtungen geschmückte Sprache führe.
Als nun mit der Zeit die Pyihia aufhörte, in Versen zu
sprechen, that diess, wie Plutarch sagt, der Glaubwürdigkeit
der Orakel viel Eintrag, indem angenommen wurde, dass
sie sich dem Gotte nicht mehr näherte, oder dass die Kraft
des aus dem Schlünde steigenden Dunstes verschwunden
wäre. Plutarch erkannte also den Zusammenhang der
rhythmischen Sprache mit dem Zustande der Begeisterung,
und aus der Abnahme jener schloss er auf die Abnahme
auch dieser. Das Problem ist also für ihn ein sehr wichtiges,
wiewohl er selbst sagt, dass auch die älteren Priesterinnen
sehr viele Orakel in Prosa ertheilten. Man könne nicht
verlangen, dass alle Orakel in Versen ertheilt werden, und
dass die in Prosa ohne Wahrheit seien, wie man auch nicht
sagen könne, dass Sappho allein ein verliebtes Mädchen
gewesen sei Sogar lobt er die Prosa der Orakel, da Viele
der Ansicht seien, dass Metaphern, Räthsel und Zweideutigkeiten
eben so viele Rückhalte und Schlupfwinkel
bilden, wohin man sich leicht zurückziehen könne, wenn
einmal die Prophezeiung nicht eintreffe.
Bei unseren Somnambulen ist das Sprechen in Versen
keineswegs die Regel, findet vielmehr nur bei hoher Begeisterung
statt. Plutarch hätte also die Antwort auf seine
Frage, warum die Pythia nicht mehr in Versen spreche,
leicht finden können. Der Inhalt der Orakel musste daran
Schuld sein. Plutarch selbst giebt zu, dass man dio Orakel
nicht mehr nur in verwickelten, geheimnissvollen und gefährlichen
Angelegenheiten befrage, sondern in unbedeutenden
Dingen, Erbschaften, Heirathen, Geldangelegenheiten, Reisen,
Gesundheit, Gedeihen des Viehs, Wachsthum des Getreides,
kurz in Dingen, für welche der Vers nur ein sophistischer
Schmuck wäre.
Das Dichten der Somnambulen ist ein merkwürdiges
Problem, das auch auf die Psychologie der Dichtkunst ein
interessantes Licht wirft, dessen Behandlung aber nicht
hierher gehört, wo lediglich die Thatsache dieses Dichtens
als ein Parallelfall von Somnambulismus und Orakelwesen
anzuführen war.
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