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302 Psychische Studien. XIV. Jahrg. 7. Heft. (Juli 1887.)
Diess legte Piaton so aus, dass Gott durch Emanation die
Vielheit der einzelnen Seelen werden lasse,1) und so konnte
er daraus, ganz entsprechend der Delphischen Inschrift,
folgern, dass die wahre Selbsterkenntniss im Einblick der
Vernunft in ihr göttliches Wesen bestehe.2) Nach Cicero
lehrte Sokrates, dass die menschlichen Seelen göttlich seien
und nach der Trennung vom Körper ihnen die Bückkehr in
den Himmel offen stehe,3) Piaton drückt die Doppelnatur
der Menschenseele, die einen Funken göttlichen Wesens
habe, mythisch mit den Worten aus: nur eines der beiden
Bosse sei edel und von guter Abkunft, das andere aber von
entgegengesetzter Abstammung und Beschaffenheit.4) Endlich
sagt Plotin noch deutlicher, es gebe eine doppelte Selbsterkenntniss
; die eine beziehe sich auf die seelische Er-
kenntniss, die andere auf den Geist, und in dieser letzteren
erkenne man sich nicht als einen Menschen, sondern als
einen ganz Anderen.5) Mit anderen Worten: das sinnliche
Selbstbewusstsein erschöpft nicht unser Wesen; der Mensch
ist die Darstellungsform eines transcendentalen Subjektes,
welches jedoch nicht ganz in diese irdische Erscheinung
versenkt ist.
Ohne Berücksichtigung der transcendentalen
Psychologie ist also eine wahre Selbsterkenntniss nicht
möglich. Diess ist es, was die Inschrift am Tempel zu
Delphi sagen wollte.
*) Piaton: „Phaedrus".
2) Piaton: „Alcibiades".
*) Cicero „de amicit.*' IV. 13.
4) Plat „Phaedrus".
6) Plotin: „Ennead." V, 4. 8.
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