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Wittig: Liegt dem Volksaberglauben gar keine Wahrheit etc. 329
der Luft des Aberglaubens nicht heraus, und da ich, wie
bemerkt, von Natur zu Visionen hinneigte, so vertrieben mir
diese Nachtunterhaltungen der gutmüthigen Kindermagd, die
sich gar nichts dachte, sondern sich wohl nur selbst ein
Genüge damit that, zwar die Zeit, füllten mir aber den Kopf
mit lauter wunderbaren Geschichten, an die ich fest glaubte.
Sagenhafte Erzählungen knüpften sich an Orte, welche dem
Pastorat ganz nahe lagen; selbst der Kirchhof, am Tage
uns der liebste Spielplatz, war nicht frei davon; wir hüteten
uns deshalb wohl, ihn nach Dunkelwerden zu betreten.
Zwei Orte besonders bezeichnete der Volksmund als solche,
wo es nicht geheuer sein sollte, das Bahrhaus, das wir
immer vor Augen hatten und wo der Todtengräber seine
Geräthschaften mit den Todtenbahren aufbewahrte, und ein
verwilderter, mit hohen ßrennnesseln bewachsener Grabhügel
dicht an der Kirchhofsmauer, fern von allen übrigen Gräbern
gelegen. In ersterem Hause sollten die Spaten von selbst
gegeneinander schlagen, weim ein Todesfall bevorstehe, dies
„Rübren des Grabscheites" aber, wie man es nannte, dem
Todtengräber in seinem ziemlich entfernt gelegenen Häuschen
vernehmbar werden. Der uns wohlbekannte Mann
hantirte fast täglich auf dem Kirchhofe, indem er die Gräber
kürzlich Verstorbener sauber mit frischem Rasen bekleidete,
auf andere Gräber Rosenstöcke, eine beliebte Grabzier,
pflanzte, oder schon ältere und eingesunkene Grabhügel auf
Wunsch der Angehörigen der Verstorbenen wieder aufhöhte.
Ungeachtet meiner Schüchternheit, die seit meiner Erkrankung
mich jedem Fremden gegenüber befiel, was mich übertrieben
zurückhaltend machte, plagte mich doch die Neugier, dem
Todtengräber mit einer direkten Frage zu Leibe zu gehen.
Er sah mich ernsthaft an, nickte sehr bedeutsam mit dem
Kopfe und sagte trocken; 'Das ist so, mein Junge: wenn
einer sterben soll, höre ich das Grabscheit klingen. Manchmal
sehe ich auch das Todtenlicht über dem Kopfe des dem
Tode Verfallenen. Ein blaues Flämmchen flackert über ihm
auf und verlischt ganz allmälig.' — Mir standen die Haare
zu Berge bei diesen Worten des schlichten Mannes, der gar
nicht das Aussehen eines Aufschneiders, absichtlichen Lügners
oder Schelmes hatte, und seine Person ward mir ehrwürdig.
Ob er selbst an das, was er erzählte, glaubte, weiss ich nicht,
doch ist es mir sehr wahrscheinlich, denn er gehörte zu den
mancherlei Eingebornen des Dorfes, denen oft etwas vorkam,
die oft ein Gesicht hatten. Unaufgefordert erzählte mir
derselbe Mann, wenn ich ihm bei seinen Arbeiten zusah,
noch allerhand Geschichten von Vorbedeutungen, wobei er
besonders scharf betonte, dass dies allen Leuten so gehe,
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