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330 Psychische Studien. XIV, Jahrg. 7. Heft. (Juli 1887.)
deren Beruf es sei, Verstorbene zu berühren und sie in
Sarg und Erde zu betten. Von der Leiclienwäscherin insbesondere
wollte er wissen, dass sie von jedem Sterbenden
kurz vor dessen Ableben einen schemenartigen Besuch erhalte
, und dass dieser Besuch, ohne zu sprechen, sich
wieder entferne, nachdem er ein Stück frische Seife auf
die Ofenbank gelegt habe
Mit fast noch unheimlicheren Blicken als das Bahrhaus
betrachtete ich das verrufene Grab an der Kirchhofsmauer.
Hier schlummerte nämlich eine .Frau der Auferstehung und
dem Gericht entgegen, die sich selbst entleibt hatte, und diese
Frau war die Wittwe eines Predigers gewesen, der von derselben
Kanzel herab, auf der jetzt mein Vater stand, das
W ort der Erlösung gepredigt hatte! Was die unglückliche
Frau bald nach dem Tode ihres Gatten veranlasst hatte,
selbst Hand an sich zu legen, habe ich nie erfahren können.
„Es lebten im Dorfe noch viele hochbetagte Leute,
welche die Frau persönlich gekannt hatten, von diesen aber
war in Bezug auf ihr häusliches Leben, ihren Charakter,
nichts zu erfahren. Wäre sie aber auch bei Lebzeiten von
engelhafter Güte gewesen, das Urtheil der Menge über sie
würde nach dem traurigen Ende, das sie genommen hatte,
doch hart, lieblos, ja grossentheils verdammend gelautet
haben.
„Man darf nicht vergessen, dass in dem ersten Jahrzehnt
dieses Jahrhunderts über Selbstmörder im allgemeinen noch
erschreckend streng geurtheilt wurde. Ein Mensch, der sich
selbst getödtet hatte, ward von dem Volke als ein rettungslos
Verlorner betrachtet. Man glaubte fest und führte als
Belege Beispiele an, dass seine Seele dem Teufel verfallen
sei. Kein Mensch berührte ihn, und ein ehrliches Begräb-
niss ward einem solchen Unglücklichen in meiner Jugend
entschieden vom Volke verweigert. Die seelenlose Hülle
gehörte dem Abdecker, der sie dann auch auf seinen
Karren lud, weit ins Feld hinaus fuhr und dort auf entlegnem
Anger begrub; 'verscharrte', sagte kalt die herzlose Menge.
Zweimal habe ich aus der Entfernung solchen Bestattungen
unglücklicher Selbstmörder in sehr jungen Jahren beigewohnt
.
„Wie kam denn aber dann die Predigersfrau, die ja
doch auch eine Selbstmörderin war, in das nesselbewachsene
Grab an der Kirchhofsmauer? Darauf kann ich nur mit
einer Erzählung antworten, die von Mund zu Munde lief
und die ich von verschiednen Personen in gleicher Weise
mehrmals gehört habe. Die alte Pfarrfrau — so bezeichnete
man gewöhnlich die Unglückliche — hatte sich auf dem
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