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Wittig: Liegt dem Volksaberglauben gar keine Wahrheit etc. 331
Boden eines ansehnlichen Hauses im Dorfe, das einem
Leinwandfabrikanten gehörte, erhenkt. Der Ort wurde
später durch einen Verschlag von dem übrigen Bodenräume
abgetrennt, denn die Bewohner des Hauses waren in ihrem
unausrottbaren Aberglauben der Meinung, die Todte treibe
dort ihr Wesen. Wahrscheinlich aus einer gewissen Scheu
vor der Entseelten, die bei Lebzeiten ihres Gatten allsonntäglich
im Angesichte der ganzen Gemeinde im Pfarrstuhle
gesessen hatte, gewährte man ihr abseits von allen
übrigen Gräbern guter Christen eine Ruhestätte an der
Kirchhofsmauer, Vermuthlich hatten ihr diesen letzten
Dienst mildherzige Leute erwiesen. Nun aber kam das
Unglück nach. Die arme Seele hatte keine Ruhe in dem
halbehrlichen Gra.be, das ihr ja nicht geziemte; sie stieg des
Nachts aus der Erde und ging ruhelos um bis zum ersten
Hahnenschrei. Bewohner des Pfarrhauses und des nächsten
Bauernhofes, dessen Feldweg den Kirchhof fast berührte,
sahen die alte Pfarrfrau auf dem Grabe sitzen; andre begegneten
ihr im Dorfe, wie sie schattenhaft an den Zäunen
forthuschte und in dem Hause verschwand, wo sie sich den
Tod gegeben hatte. Und dort begann um die Mitternachtsstunde
ein Rumoren, dass die Bewohner desselben nicht
wussten, was sie anfangen sollten. Es unterlag gar keinem
Zweifel, die unseelige Selbstmörderin ging um, oder wie
der Volksausdruck hiess, sie scheechte (scheuchte)! Was
war da zu thun? Die Frage war misslich und schwer zu
beantworten. Zunächst konnte man sich ja Raths erholen
bein. klugen Mann. Ein solcher, der in hohem Ansehen
beim Volke stand, wohnte nicht weit jenseits der böhmischen
Grenze in Niedergrund. Der Mann war ein Ausbund von
Weisheit, war in geheimer Wissenschaft erfahren und verstand
in manchen Fällen sogar den Schleier der Zukunft
zu lüften. Sein Ausspruch — das stand fest — sollte entscheidend
sein, vorausgesetzt, dass er in so heikler Angelegenheit
sich überhaupt entschloss, seinen Mund zu öffnen. Der
Geist der Unseligen muss gebannt werden, lautete der Spruch
des klugen Mannes, und das kann nur von dem Scharfrichter
geschehen, denn dem ist die Seele jedes Selbstmörders verfallen
. Das leuchtete den geängsteten Hausbewohnern ein
und belebte sie mit neuem Muthe, mit neuer Hoffnung. Der
schwere Gang zum Scharfrichter wurde angetreten und
seine Hilfe in Anspruch genommen. Und siehe da, der gefürchtete
Mann sagte zu!
„Die Mitwelt wird, was nun geschah und was glaubwürdige
Augenzeugen mir wiederholt erzählt haben, kaum
für möglich halten. Der Scharfrichter erschien zu einer von
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