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388 Psychische Studien. XIV. Jahrg. 9. Heft. (September 1887.)
Hoffnung gegründet, dass die Wissenschaft Ein Gesetz wird
aufstellen können, das nicht nur die Bewegungen aller
irdischen und kosmischen Körper erklärt, sondern auch noch
die Erscheinungen der Cohäsion, Adhäsion, sowie der
chemischen Vorgänge.
Weil also unsere Naturerfahrung wandelbar ist, müssen
auch die von uns gefundenen Gesetze wandelbar sein, und
wir haben kein Recht, neuen Thatsachen gegenüber zu
sagen, dass sie allen Naturgesetzen widersprechen. Die
Welt bleibt immer die gleiche; aber unseie Begriffe von
Möglichkeit und Unmöglichkeit haben beständig gewechselt.
Der logische Widerspruch allein ist unmöglich und kann in
der Natur nicht vertreten sein; alles Denkbare aber ist
möglich, und auf die Erfahrung allein kommt es an, ob es
wirklich ist. Den Gedanken eines runden Vierecks kann
ich nicht vollziehen — es ist also unmöglich; — wohl aber
ist der Begriff eines Hellsehers, oder eines Gespenstes
denkbar, also möglich, denn beide sind widerspruchsfrei.
Der Verfasser des Artikels „certitude" im „Dictionnaire
eneyclopedique" hat daher vollkommen Becht, zu sagen, dass
eine Ueberzeugung ausschliesslich auf den Beweisen
beruhen muss und ganz unabhängig sein soll von der Natur
der behaupteten Thatsache; dass also eine Anzahl von
Zeugen, welche hinreicht, um es sicher zu stellen, dass
irgend ein Mensch irgendwo zu einer bestimmten Stunde
gesehen wurde, auch hinreichen muss, um zu beweisen, dass
ein Verstorbener wieder auferstanden sei Heute giebt es
nun in der That Tausende vor Zeugen, welche sogenannte
Geister gesehen zu haben behaupten, und da der Begriff
eines Geistes keinen innern Widerspruch enthält, ist die
Unmöglichkeit vorweg ausgeschlossen. Auf die Zeugen
allein kommt es an; nun würden aber drei derselben z. B.
genügen, um einen Juristen zum Aussprechen der Todesstrafe
zu veranlassen; es geht also nicht an. solche Zeugen
darum zu verwerfen, und gleichsam das Todesurtheil über
eine Thatsache auszusprechen, nur weil unser Verstand nicht
gewohnt ist, sie zu denken. Nicht wegen mangelnder Zeugnisse
werden Gespenster verworfen, sondern trotz derselben;
nicht im Verstand der Zweifler lifgt der Widerstand, sondern
in ihrem Willen, indem sie nicht zugeben wollen, dass ihre
Begriffe von Möglichkeit und Unmöglichkeit falsch seien.
Die Wissenschaft drängt also in ihrer natürlichen Entwicklung
zu einem System als provisorischem Abschluss;
das System seinerseits aber verführt dazu, die ihm un-
assimilirban n Bestandteile, die sich in der Welt der
Erscheinungen finden, a priori zu verwerfen. Die Gelehrten
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