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414 Psychische Studien. XIV. Jahrg. 9. Heft. (September 1887.)
Das Denken entwickelt sieh in den verschiedensten Verhältnissen
und ist in seinen ursprünglichen Formen gewiss
nur ein bildliches; den Kräften, welche über ihr eigenes
Sein hinaus andere Sein wahrnehmen, muss die Fähigkeit
erwachsen, von den andern Kräftebeziehungen Vorstellungen
zu gewinnen, nämlich die Wirkungen jener
Kräftebeziehungen auf das eigene Sein mit Bewusstsein zu
empfinden. Dazu ist es aber nothwendig, dass die denkenden
Kräfte mit den fremden Kräften in Berührung kommen, denn
ohne Berührung wäre es undenkbar, wie die denkende Kraft
zur Kenntniss der Existenz fremder Gebilde kommen könnte.
Die Natur hat nun in merkwürdiger Weise dafür gesorgt,
dass zur Erkenntniss der Dinge, welche ausserhalb der
denkenden Kraft bestehen, nicht die unmittelbare Berührung
mit der denkenden Kraft noth wendig ist: sie führte vermittelnde
Kräfte ein, welche von den Dingen der Natur
in verschiedentlichster Weise ausgehen und zu den denkenden
Kräften gelangen. Die denkenden Kräfte besitzen also die
Befähigung, dass sie vermittelnde Kräfte aufnehmen, um
durch die bewussten Empfindungen, welche in ihnen hervorgerufen
werden, auf diejenigen Dinge zu schliessen, von
welchen die vermittelnden Kräfte ausgehen. Die denkenden
Kräfte haben sich den Organismus des Körpers allmälig
darnach eingerichtet, dass die Wahrnehmung der Aussenwelt
durch die vermittelnden Kräfte möglichst günstig erfolgt,
und demgemäss entstanden in den Thieren die Sinnesorgane
, deren jedes dazu dient, einer anderen Art der
Kräftevermittlung zu dienen. Wie bekannt, haben sich
Sinnesorgane für das Sehen, Fühlen, Hören, Riechen und für
den Geschmack in den Thieren in verschiedenen Gradationen
der Empfindlichkeit ausgebildet. Es sind nun denkende
Kräfte vorhanden, welche die Existenz der ausser ihnen
bestehenden Dinge durch die vermittelnden Lichtkräfte
wahrnehmen und eine Vorstellung durch das Eintreffen
dieser Kräfte gewinnen. Ebenso sind besondere denkende
Kräfte für die Empfindungen des Fühlens. Hörens, Riechens
und Schmeckens, wenigstens in den höheren Thieren und im
Menschen vorhanden.
Der Organismus der höheren Thiere und des Menschen
ist ein überaus complicirter, daher das Resultat einer überaus
langen Entwicklangszeit. Die Untersuchungen ergeben, dass
in den höheren Thieren und im Menschen das Gehirn dasjenige
Organ des Körpers sei, das als Centrai-Organ für
das Leben dient. Ausserdem bestehen zahlreiche Nerven
in der complicirtesten Weise im Körper, und von den meisten
Stellen desselben gehen Nerven-Leitungen zum Gehirne, um
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