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Carl du Prel: Ein Erbfehler der Wissenschaft. 435
tellektuellen Fehler, sondern um einen Willensfehler,
um den Widerstand gegen die Anerkennung von
Thatsachen der Natur, die nur darum verworfen
wurden, weil ihre Erklärbarkeit nicht sofort sich einstellen
wollte.
Es zeigt sich also aus der Geschichte der Wissenschaften,
dass die Gelehrten allerdings sehr geeignet sind, die einmal
anerkannten Thatsachen zu untersuchen und wissenschaftlich
zu erklären, dass sie aber eben vermöge ihrer Gelehrsamkeit,
die zur Systembildung führt, weniger geeignet sind, als
Laien, die Existenz neuer Thatsachen anzuerkennen. Zu
Letzterem genügen zwei gesunde Augen, über die der Laie
sehr wohl verfügen kann; und vom wissenschaftlichen Vor-
urtheil wird er schon darum nicht gehindert, weil er meistens
keine Wissenschaft besitzt. Auf diese Weise ist es gekommen
, dass gewöhnlich nicht jene Generation, von welcher
eine Entdeckung ausging, den Nutzen davon zog, sondern
meistens erst die folgende, nachdem inzwischen der entgegenstehende
Widerstand durch die Macht der Thatsachen
gebrochen war. Die Wissenschaft hat sich also, so oft sie
noch über neue Thatsachen aprioristisch geurtheilt hat, als
Feindin der Wahrheit gezeigt; und wenn sie diesen Fehler
nicht ablegen sollte, wird das Publikum mehr und mehr
geneigt werden, so oft der gelehrte Widerstand sich zeigt,
eben daraus zu schliessen, dass es sich wiederum um eine
Wahrheit handle.
Da nun die Aufgabe der Wissenschaft eine doppelte
ist: 1) Anerkennung der Thatsachen; 2) Erklärung derselben
; da ferner die Wissenschaft, so grossartig auch ihre
Leistungen in letzter Hinsicht sind, doch in erster beständig
in den Fehler des Apriorismus verfallen ist: so sollten die
Akademien in ihrem eigenen Interesse bestrebt sein, die
entsprechende Reformation vorzunehmen. Das Publikum
hat alles Eecht, von diesen kostspieligen Instituten zu erwarten
, dass der beständigen Wiederkehr solcher akademischen
Dekrete, welche die Wissenschaft aufhalten, vorgebeugt
wird. Der Autoritätsglaube, der für jeden Einzelnen
ein so bedeutendes Hinderniss der Erkenntniss ist, darf nicht
bei gelehrten Körperschaften unbeschränkt bleiben. Ja es
sollte geradezu in die Statuten solcher Gesellschaften ein
Paragraph aufgenommen werden, der sie verpflichtet, jede
von einer genügenden Anzahl von Zeugen behauptete That-
sache durch eine Commission untersuchen zu lassen. Diese
Commiss.onen dürften durchaus keine Rücksicht darauf
nehmen, ob die behaupteten Thatsachen irgendwie plausibel
erscheinen, oder nicht; ob sie nach dem gegenwärtigen Stande
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