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436 Psychische Studien. XIV. Jahrg. 10. Heft. (October 1887,)
unserer Erkenntniss erklärbar sind, oder nicht Kurz die
Natur der behaupteten Thatsache darf nie ein Hinderniss
bilden, sie zu untersuchen.
Die Berechtigung eines solchen Paragraphen ist von
selbst verständlich. Entweder ist die behauptete Thatsache
falsch, dann wird der Verbreitung eines Aberglaubens im
Publikum ein Riegel vorgeschoben; oder sie ist wahr, dann
kommt sie zur schnelleren Geltung, und das Publikum wird
von falschen Erklärungen abgehalten; denn wenn auch Laien
entdecken können, so ist doch das Erklären ganz gewiss
nicht ihre Sache. Durch die Aufnahme eines solchen Paragraphen
würde also Zweierlei erreicht: 1) Es würde verhindert
, dass angebliche Wahrheiten Jahrzehnte lang im
Publikum kursiren und den Aberglauben fördern. 2) Es
würde verhindert, dass wirkliche Wahrheiten Jahrzehnte
lang gerade von den Vertretern der Wissenschaft bekämpft
werden, wodurch der eben so schädliche Unglaube genährt
wird; die Menschheit würde also möglichst schnell in den
gesicherten Besitz neuer Wahrheiten gelangen.
Wer das historische Sündenregister der Akademien
kennt, der wird in der That nicht im Zweifel darüber sein,
dass der Unglaube ebenso schädlich ist, als der Aberglaube
. Der Aberglaube betrügt die Menschen, der Unglaube
bestiehlt sie. Die abergläubische Erklärung einer
Erscheinung wird früher oder später verlassen und durch
die natürliche ersetzt. Die Unterdrückung einer Thatsache
durch die wissenschaftliche Autorität ist aber weit gefährlicher
; das Vorurtheil des Aberglaubens kann durch die
höhere Instanz der Wissenschaft überwunden werden; das
wissenschaftliche Vorurtheil aber ist zäher, weil die Wissenschaft
eine höhere Instanz über sich nicht anerkennt. Diese
höhere Instanz existirt nun aber doch: es ist die Natur, der
wir nicht a priori vorschreiben dürfen, welche Erscheinungen
sie uns bieten darf. Dagegen ist es ganz falsch, das jeweilig
herrschende System, dieses vorübergehende Produkt \er-
gangen« Erfahrung, zum Richter über Möglichkeit oder
Unmöglichkeit künftiger Erfahrungen aufzustellen, oder es
zum Prokrustesbett zu machen, in das die neuen Erfahrungen
bezüglich ihrer Erklärung gezwängt werden müssten. Die
Gelehrten, die ein fertiges System haben, sind eben darum
vorweg geneigt, neue Thatsachen, die ausserhalb des Er-
klärungsumfangs des Systems liegen, durch Umdeutung
diesem anzupassen. Meistens wird dabei der Accent auf
irgend einen Nebenumstand gelegt, der vermöge seiner
Aehnlichkeit mit schon bekannten Erscheinungen Aussicht
bietet, die neue Thatsache in ein altes Schubfach einzuordnen.
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