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Carl du Prel: Ein Erbfehler der Wissenschaft. 437
So haben z. B. die Aerzte an Somnambulen häufig hysterische
Erscheinungen wahrgenommen, und nach dem bekannten
Schlüsse „cum hoc, ergo propter hoc" glauben sie den
Somnambulismus in Hysterie auflösen zu können: ja wenn
man ihren Worten glauben möchte, würde sich die ganze
Geschichte des Uebersinnlichen in eine Geschichte der
Hysterie auflösen. Wenn aber der Besitzer eines fertigen
Systems sich auch herbeilassen sollte, eine für unmöglich
gehaltene Erscheinung experimentell zu untersuchen, so wird
er doch gleich nach den ersten Fehlversuchen seine Bemühungen
einstellen, weil dadurch sein Vorurtheil, seine
Eitelkeit, der Glaube an seine wissenschaftliche Unfehlbarkeit
genährt wird. Dass .Fehlversuche gar nichts beweisen,
gelungene Versuche Alles, vergisst er darüber. Er gleicht
jenem Angeklagten, der befragt, was er gegen die ihn
gravirenden Augenzeugen einzuwenden habe, erwidert, er
könne eine noch grössere Anzahl solcher Zeugen beibringen,
die das von jenen Gesehene nicht gesehen hätten.
Die fertigen Systeme sind die Fetische der Gelehrten,
denen die neuen Thatsachen als Opfer gebracht werden.
Bei aller Hochachtung vor der Wissenschaft muss aber
doch zugegeben werden, dass die meisten Gelehrten nur
Verbreiter oder höchstens Hülfsarbeiter bei der Entdeckung
neuer Wahrheiten sind; der eigentliche Fortschritt der
Wissenschaften ging immer von einzelnen Genies aus,
die zu ihren Leistungen gerade dadurch befähigt wurden,
dass kein Vorurtheil sie abhielt, neue Thatsachen anzuerkennen
. Es gilt eben von jedem Stande, dass mit der
Anzahl seiner Mitglieder auch die Anzahl seiner unbedeutenden
Mitglieder wächst. Da nun der Gelehrten stand
in allen Kulturländern eine ausserordentliche Höhe erreicht
hat, so lässt sich vorweg auf eine grosse Zahl jenes
„eruditum vulgus" rechnen, von dem schon Plinius*) spricht.
Und da fertige wissenschaftliche Systeme in einer Zeit, die
über die Buchdruckerkanst verfugt, sehr schnell zum Gemeingut
der Gebildeten, zum Bestandtheil der öffentlichen
Meinung werden, so gilt eben von jenem wissenschaftlichen
Vulgus dasselbe, was vom Vulgus überhaupt: „Vulgus ex
veritate pauca, ex opinione multa existimat."**) Der Einzelne
glaubt, weil und was Man glaubt; er glaubt zu schieben,
und er wird geschoben. So giebt es eine Denk- wie eine
Kleider-Mode, Thatsachen, die der Denkmode, dem fertigen
*) Plinius•: „Hist. nat.** II. 7.
**) Deutsch: „Der gemeine Haufe urtheilt nach der Wahrheit
wenig, vielmehr nach Meinungen."
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