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Carl du Prel: Ein Erbfehler der Wissenschaft. 439
ihre heutige Höhe erreicht hat; ja sogar grosse Vortheile
lassen sich dem A priorismus nicht absprechen, er ist in der
Wissenschaft gegenüber der Neuerungssucht das, was in
der Biologie die Erblichkeit gegenüber der Differenzirung,
was in der Politik die conservative Partei gegenüber dem
Fortschritt, was im Ptanetenlauf die Schwerkraft gegenüber
der Centrifugalkraft. Die Wissenschaft muss ihren Conser-
vatismus haben; sie soll langsam und sicher ihren Bau
weiterführen, sie muss mit ihren bisherigen Erklärungs-
principien so lange auszukommen trachten, als es angeht,
und nur im klar erwiesenen Notkfall darf sie ein neues
Princip, eine neue Naturkraft annehmen. Professor Simony
sagt: „Würde jede neue Idee sofort allgemein bereitwillig
aufgenommen und verarbeitet werden, so wäre das Licht
der Erkenntnis? wohl kein ruhig strahlendes; es würde dann
eher einer lodernden, im Windhauch hin- und herbewegten
Fackel zu vergleichen sein, zwar weithin leuchtend, aber
unfähig, irgend ein Objekt der Erkenntniss in voller Schärfe
und Klarheit hervortreten zu lassen. Auch ist der harte
Kampf um's Dasein, der jeder grossen Idee in ihren ersten
Entwicklungsphasen zu Theil wird, das mächtigste Förderungsmittel
für diese selbst, zumal äusserer Widerstand —
wenigstens für kraftvolle Naturen — das wirksamste Motiv
bildet, alle ihre Fähigkeiten zur weiteren Ausbildung und
möglichst klaren, überzeugenden Darstellung des neuen
Gedankens einzusetzen."*) Wenn aber die Wissenschaft
conservativ sein soll bezüglich der Erklärung neuer Thatsachen
. so darf sie doch nicht die Existenz neuer That-
sachen aus Liebe zum Conservatismus leugnen.
Das Vorurtheil, dass, was gestern nicht geschah, auch
heute nicht geschehen könne, und dass die Gelehrten im
Buche der Natur schon die letzte Seite aufgeschlagen haben,
macht sich in unseren Tagen besonders stark geltend gegenüber
allen Thatsachen der Mystik. Nun sind dieselben,
besonders manche erwiesene Thatsache des Spiritismus
, allerdings im höchsten Grade befremdlich und für
das von der Aufklärungsperiode geschaffene System sehr
gefährlich. Aber wenn man selbst meiner persönlichen
Ansicht nicht sein sollte, dass diese Phänomene in der Verlängerungslinie
des Darwinismus liegen, ja dass die zu Ende
gedachte Atomentheorie in die Mystik einmündet; wenn
also diese Thatsachen selbst ganz und gar unbegreiflich
wären, so müssten wir sie eben doch hinnehmen, auch wenn
der King des Aufklärungssystems dadurch gesprengt würde.
*) Simony: „Ueber das P»incip der Erhaltung der Energie."
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