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456 Psychische Studien. XIV. Jahrg. 10. Heft. (October 1887.)
bilden in der Reihe der im menschlichen Organismus befindlichen
Lebenskräfte den Uebergang zu der Geistkraft und
sind selbst Geistkräfte niederer Ordnung. Als solche sind
sie im Stande, aus den ihnen von den Sinnesorganen oder
vom Geiste selbst zukommenden Gedankenbildkräften durch
einen geistigen Prozess in ihrem Innern wie der Geist Gedankenbildkräfte
selbst zu erzeugen,,welche Gemüths-
bildkräfte genannt werden sollen, und in diesen ist der
Ausdruck der Empfindungen des Gemüths enthalten. Auf
Nervenleitungen gelangen sie in's Gehirn. Trifft mit ihnen
der Geist zusammen, so erhält er Kunde von den Wahrnehmungen
des Gemiithes und schafft nun selbst Gedanken
und Körperbewegungen nach seinen eigenen Erwägungen,
oder aber er giebt den Forderungen der Gemüthskräfte
nach, ohne seiner eigenen Erkenntniss zu folgen, wodurch
er seine Herrschaft über die ihm untergeordneten Geistkräfte
verliert. Die Thatsachen entsprechen diesen Folgerungen;
denn was sind denn die Leidenschaften im Menschen
anderes, als die Wirkungen der niederen Geistkräfte seines
Gemiithes? Wenn also etwa der Zorn oder der Schmerz
einen Menschen überwältigt und zu unüberlegten Handlungen
hinreisbt, so ist dies die Wirkung einer niederen
Geistkraft seiner Seele, zu der der Geist selbst nur in soweit
beiträgt, als er zur Uebersetzung des durch die niedere
Geistkraft Gewollten in mechanische Handlungen des Körpers
Befehle, also Reize an die motorischen Nerven ertheilt.
Bei solcher Darlegung der geistigen Verhältnisse im
Menschen muss es jedem Vernünftigen, dar sich dieser Erkenn
toiss nicht verschliesst, möglich sein, ein Urtheil über
sein eigenes Ich vom Standpunkte der geistigen Mechanik
aus zu gewinnen; er muss deutlich zu unterscheiden verstehen
, ob er in seiner Thätigkeit von seinem Geiste zweckmässig
für's Ganze geleitet wird, oder ob er der Macht
seiner Gemüthskräfte folgt, welche nur ihr Sonder-Interesse
befriedigt wissen wollen. Er wird einsehen, dass die
Wirkungen des Gemüthes in Schranken gehalten werden
müssen, denn die vielen Gemüthsbildkräfte einer und derselben
Art haben nothwendig eine Störung im dynamischen
Gleichgewichte aller Lebensfunetioncn zur Folge, weshalb
auch Krankheiten in den geistigen und physischen Thätig-
keiten von Seele und Leib sich offenbaren werden. Der
Vernünftige wird seinen Geist als sein eigentliches „Ich"
betrachten, dem alle Kräfte des Gemüthes untergeordnet
werden sollen, und wenn er findet, dass ihn das Gemüth in
unzweckmässiger Weise beherrschen will, so wird er so viel
wie möglich den Kräften desselben den Zutritt in's Gehirn
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