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Wittig: Liegt dem Volksabeiglauben gar keine Wahrheit etc. 467
miisKe ein Tummelplatz für Geister sein, wenn es deren
überhaupt gebe. Unzählige Male habe ich, bald in Begleitung
, bald allein, bei Tage wie in finsterer Nacht, diese
Orte betreten, nicht aus Uebermuth, sondern um Aufträge
des Vaters zu besorgen; ohne lautes Herzklopfen und
scheues Umblicken aber ging es dabei nicht ab.
„Wie es möglich war, diesen Aberglauben ruhig
fortwuchern zu lassen, ist mir noch heute nicht recht verständlich
. Diejenigen, deren Aufgabe es gewesen wäre,
hier belehrend und aufklärend einzuschreiten, konnten sich
mit Unwissenheit nicht entschuldigen. Jedermann wusste
sehr wohl darum, denn es ward gar zu oft und bei dem
geringsten Anlass davon gesprochen. Aber es fiel keinem
Menschen ein, den Leuten das Schädliche ihres Aberglaubens
vorzuhalten und sie schonend, aber einsichtsvoll auf das Unhaltbare
desselben aufmerksam zu machen. Verstreute
Aeu8serungen, die mir gesprächsweise zu Ohren kamen,
wenn benachbarte Prediger uns besuchten und dann, aus
langen holländischen Thonpfeifen Tabak rauchend, mit dem
Vater in unserm giossen Wohnzimmer auf- und abgingen
und sich lebhaft unterhielten, Hessen schon damals die
Ahnung in mir aufsteigen, dass man schwieg, um das
Volk nicht zu sehr aufzuklären! Gewiss ist, dass
die Mehrzahl aller Prediger, die in meinem Elternhause
ein- und ausgingen, sich entschieden zur Wehr setzte,
wenn hie und da in pädagogischen Zeitschriften oder in Büchern
die Notwendigkeit betont wurde, dass man mehr Bildung
unter das Volk bringen müsse, und dass diese hochwichtige
Aufgabe in erster Linie den Schulen zufalle. — Mein Vater
selbst schien im Prinzip nichts dagegen zu haben, nur erklärte
er sich gegen jede Ueberstürzung und war nebenbei
auch der Meinung, dass man seine Leute ansehen müsse
und nicht alle über einen Kamm scheeren dürfe. Ganz
anders fasste ein Onkel von mir und der damalige Beichtvater
der Eltern diese Angelegenheit auf. Beide erklärten
mit Eifer und aus gleichen Gründen, es sei viel besser,
das Volk glaube an Teufel, Gespenster und allerhand
Unsinn, als dass es überhaupt im Glauben
wankend werde« Fange man erst an, aufzuklären, den
Leuten ein Licht aufzustecken, so werde man nur traurige
Erfahrungen machen. Der gemeine Mann verstehe selten
richtig zu unterscheiden und Maass zu halten; ungeübt im
Denken, überhebe er sich gern, wenn er meine, es sei ihm
ein neues Licht aufgegangen. Der Dünkel lasse ihm dann
keine Euhe mehr, er reisse ungestüm alle Grenzen nieder,
trete auch das Heiligste unter die Füsse und vorfalle
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