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Wittig: Identitäts-Täuschungen durch Illusion. 515
Haar und einer Puppe im Arm gesehen. Durch geschäftlichen
Verdruss verstimmt, habe ihn dies anmuthige Bild
erheitert und beruhigt. Beim Abfahren des Zuges habe er
eine Frauenstimme aus jenem Hause das Kind „Laurinel"
rufen hören. Wie eine Vision sei ihm diese kleine Idylle
vor seinem geistigen Auge vorüber gezogen, bis er sie vergessen
» — Nach etwa zehn Jahren erst sei er dort wieder
vorüber gefahren und habe im Garten ein schlankes, junges
Mädchen, ein schönes blondes Kind, mit einem blauen
Bande im Haar, neben einem hübschen jungen Manne, ohne
Zweifel ihrem Bräutigam, glückstrahlend gesehen und sie
als jene zehnjährige Laurine wieder zu erkennen geglaubt.
Er habe ihr abfahrend, mit der Hand zum Grusse zuwinkend
, zugerufen: „Auf Wiedersehen, Fräulein Laurine lu
Darüber erstaunt, hätten Beide alsbald herzlich gelacht und
mit den Taschentüchern ihm nachgewinkt Er sei von
seinem kleinen Abenteuer entzückt gewesen. — Nach weiteren
zwölf bis fünfzehn Jahren habe ihn seine Geschäftsreise
abermals vor jenem blauen Hause mit dem Gärtchen
vorüberfahren lassen. Ein kleiner Knabe spielte mit einem
grossen, sich auf dem Rasen wälzenden Hunde. Eine Dame
trat aus dem Hause zu dem weinenden Kleinen, etwas
stärker geworden, nicht mehr so blond, aber unser Reisender
glaubte sie auf der Stelle wieder zu erkennen. Bei ihrem
Anblick lüftete er achtungsvoll den Hut vor ihr, worauf
sie sichtlich ein wenig überrascht dankte. Beim Abfahren
warf er dem Knaben im Garten noch eine Orange zu. —
Nun +rat die ereignissvollste Epoche im Leben unseres
Erzählers ein. Er ging nach der Türkei und erwarb sich
dort ein kleines Vermögen, das er durch einen Schiffbruch
im Rothen Meere bald mit seinem eigenen Leben verlor.
„Und nun geschah das Seltsame, dass, während unser
Schiff scheiterte und die verhängnissvolle Stunde hereinbrach
, wo ich nur durch ein dünnes Brett vom Tode
getrennt war, jenes blaue Haus sammt seiner Bewohnerin
vor meinem Geiste auftauchte, so klar und deutlich wie
am ersten Tage. Und da sagte ich mir: 'Armer Jean, jetzt
siehst Du, wie thöricht Du gewesen bist, durch die weite
Welt dem Glücke nachzujagen! Hättest Du nicht ebenso
wie Deine Freundin Laurine in irgend einem blauen Hause,
von den Strahlen der heimathlichen Sonne beschienen,
leben können? Dann wären Dir solche Dinge nicht passirt!'
— Ich entrann jedoch dem Tode*4... Eine vorübersegelnde
holländische Brigg nahm die mit den Wogen Kämpfenden
auf. Er8tfünfzehn oder zwanzig Jahre später fuhr unser
Geretteter wohl zum letzten Male von Marseille nach Paris
SS*
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