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534 Psychische Studien. XIV. Jahrg. 12. Heft. (Dezember 1887.)
Nachdem die Bonbonniere abermals dem Feuer nahegebracht
worden war, verschwand die Schäferin, und der
Achat kam wieder zum Vorschein.
Ludwig XV. hatte sich mit Saint - Germain noch nicht
privatim rnterhalten; er bat daher im vergangenen Monat
die Favorite, ihn bei sich mit diesem Menschen, den er
einen geschickten Charlatan nannte, zusammen zu bringen.
Der Graf stellte sich pünktlich zu dem Rendezvous ein,
welches der König ihm andeuten Hess. Er hatte eine sehr
prachtvolle Tabatiäre zu sich gesteckt, trug jene reichen
Schuhschnallen, und zeigte mit einiger Ziererei seine
Hemdenknöpfe, aus sehr grossen Rubinen bestehend.
„Ist es wahr," sagte Ludwig XV., nachdem er ihn sehr
freundlich gegrüsst hatte, „dass man sagt, Sie wären mehrere
Jahrhunderte alt?"
„Sire, ich belustige mich zuweilen damit, nicht glauben
zu machen, sondern glauben zu lassen, dass ich schon
in den ältesten Zeiten gelebt habe.4'
„Doch die Wahrheit, Herr Graf, ist?*'
„Die Wahrheit ist häufig unergründlich."
„Es scheint aber doch, nach der Versicherung mehrerer
Personen, von denen Sie schon unter der Regierung meines
Grossvaters gekannt worden sind, dass Sie über hundert
Jahe alt sind/4
„Das wäre ein wenig überraschendes Alter; im Norden
Europa's habe ich Menschen von 160 Jahren und darüber
gesehen."
„Ich weiss, dass es deren giebt; aber Ihr jugendliches
Aussehen ist es, welches alle Forschungen der Gelehrten
über den Haufen wirft."
„In der jetzigen Zeit, Sire, verleiht man den Titel
Doctor um wohlfeilen Preis; ich habe es diesen Herren
mehr als ein Mal bewiesen."
„Da Sie seit so langer Zeit leben," erwiderte Ludwig XV.
in boshaftem Tone, „so geben Sie mir doch einige Nachrichten
über den Hof Franz L; dies war ein König, dessen
Andenken mir stets theuer ist."
„Er war auch sehr liebenswürdig," erwiderte der Graf,
die Frage des Königs ernst nehmend; dann schilderte er
als geistreicher Mann, als Künstler den ritterlichen König
in physischer und moralischer Hinsicht.
„Ich glaube wahrhaftig, ihn zu sehen," rief Ludwig XV.
entzückt aus.
„Wäre er weniger heftig gewesen," fuhr Saint-Germain
fort, „so hätte ich ihm einen guten Rath gegeben, welcher
ihn vor so manchem Unglück schützte, aber er würde ihn
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