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572 Psychische Studien. XIV* Jahrg. 12. Heft. (Dezember 1887.)
mir einreden, dass die nun glücklich überwundene Erregung
meines Geistes, diese so hartnäckige Beschäftigung desselben
mit einer bestimmten Person doch wohl nur die Folge einer
von mir übersehenen äusseren Ursache gewesen sein müsste, als
ich in einer Berliner Zeitung zufällig folgende Anzeige fand: —
„'Den am 10. Februar d. J. zu Samara in Russland
erfolgten Tod unseres einzigen, heissgeliebten Sohnes
Alexander an den Folgen einer Lungenentzündung erlauben
wir uns statt jeder besonderen Meldung Verwandten und
Freunden hiermit ergebenst anzuzeigen.
'Adof von Henselt,
Kaiserl. russ. Staatsrath;
&Eosalie von HenseltJ
„Das war die Lösung des Räthsels. — Ich legte das
Zeitungsblatt aus der Hand; Bestürzung und Schreck
krampften mein Herz zusammen. Jetzt fiel mir das Zusammensein
mit Alexander in Gersdorf ein, unsere gemeinschaftliche
thörichte Liebe zu der kleinen Seejungfer, unser
grossmüthiger, beiderseitiger Entschluss, dass der etwa
Bevorzugte von uns zu Gunsten des Andern entsagen wollte,
und Alexander 's Vorschlag, derjenige, der von uns beiden
zuerst sterben würde, sollte sich verpflichten, dem Ueber-
lebendeiij und wenn er noch so fern weilte, zu erscheinen
und ein Zeichen zu geben. Lag hier nur ein blöder, inhaltsleerer
Zufall vor, oder bandelte es sich wirklich um eine
jener Visionen, die der moderne Buddhist (Schopenhauer)
in seinem mehr erwähnten Aufsatze aus der Macht des
fremden Willens und aus der Eindrucksfähigkeit des eigenen
Gangliensystems zu erklären sucht? Ich bin ein ziemlich
skeptisch veranlagter Mensch und konnte mich nicht entscheiden
, die Frage in diesem oder jenem Sinne zu bejahen.
Wohl aber schrieb ich nun an Alexanders Mutter und bat
diese um möglichst genaue Angaben über sein frühzeitiges
Ende. Frau Rosalie lebte zur Zeit in Schlesien, und bald
erhielt ich die gewünschte, mich tief bewegende Antwort,
aus der ich folgende Stellen ohne Verletzung der der Brief-
schreiberin schuldigen Rücksicht glaube mittheilen zu dürfen:
als ich ihn im Herbst 1873 zum letzten Male in
meine Arme schloss, wünschte er so sehr, Sie wieder zu
sehen; ich erinnere mich deutlich seiner Worte bei einem
traulichen Abendgespräch: mein Freund A. war mir der
Liebste, stets war ich stolz auf seine Freundschaft, und
immer habe ich bewundernd zu ihm aufgeblickt.... Mein
Sohn führte stets Ihr Bild mit sich; ich sah es auf seinem
Schreibtisch stehen, als ich ihn 1872 in Warschau besuchte
. ... Nach diesem allen glaube ich bestimmt, dass
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