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Kurze Notizen.
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natürlich nie mit ilim geredet *) Aber ich erzählte ihm,
wie ich einmal in grossem Schmerz, als ich gemeint, nun
sei mir Alles dunkel geworden, die Matthaeus-P&smoii gehört
habe, nicht in höchster Vollendung der Aufführung, denn
damals war Bach halb vergessen; aber wie erhaben, wie
befreit, wie licht und sanft, wie über Leid und Schicksal
erhoben hatte ich mich gefühlt! — 'Sie arme Frau*, sagte
Wagner, 'warum habe ich Ihnen alP diese Zeit keine Musik
gemacht? Heute noch sollen Sie haben, was Sie freut*, und
— er spielte mir die Scene aus 'Tristan und Isolde1, wo
Nacht und Tod gefeiert werden in unaussprechlicher
Sehnsucht der Liebe,— 'Schon die Alten', sagte Wagner,
'haben dem Eros als dem Genius des Todes die gesenkte
Fackel in die Hand gegeben!' — Von dieser Zeit an hat
Wagner manchmal mir zum Genuss gespielt; der Flügel in
unserem Saale war ihm angenehmer als das Piano in seinem
Zimmer. — An einem Vormittage drangen mächtige Akkorde
aus dem Saal in mein Wohnzimmer herein. — Ich öffnete
leise die Thür und hielt den Athetn an, um näher gehend
zu hören, was aus des Meisters Kraft gleichsam wie aus dem
ersten Guss mir kam. Um nichts in der Welt würde ich
ihn gestört haben. Es war mir, als fühle ich ganz unmittelbar
die Macht grosser künstlerischer Herrschaft über
einen widerstrebenden Stoff. — Was war es. das mir
_ _____ * _____
Phantasie und Geist so mächtig erregte ? — Erst Finsterniss
— plötzlich stellte sich ein lichter Gedanke ein — rasch
aufblitzend leuchtete Freude durch die Seele.--Lautlos,
wie ich gekommen war, so ging ich wieder. Mit Wagner
sprach ich nicht von dem Eindruck, den das, was ich gehört,
auf mich gemacht hatte. — Einige Tage später bat er mich,
dass ich ihn auf seiner Stube besuche. Er zeigte mir
Manuscripte, die in ihren Mappen lagen, und den ganzen
Abend widmete er mir. Ich bewunderte die Arbeitskraft,
die eleganten Abschriften von seiner Hand — und gar die
kleinen mit ganz feinen Noten ausgeführten Skizzen: — da
lagen sie wie Blumen der Schönheit in der Knospe. — Ich
sah den Mann, der so reich, so mächtig schaffen konnte,
mit einer Mischung von Ehrfurcht und Bewunderung an."
c) Der als tiefsinniger Psychologe gefeierte Romanschriftsteller
Wilhelm Raabe macht in seinem neuesten Roman:
*) Wagner hätte ihr vielleicht weniger von einer Rückerinnerung
der Seele an deron fiühere Heimath, aus der sie natürlich hei vorgegangen
, als von der phantasievoll-ideal erträumten und neu zu
schaffenden Ceisterheimath gesprochen, welche sein Oenius in musikalischen
Eoapfindungsvorstellungen schon zum Iheii hienieden zu
verwirklichen suchte. — Kefer. Gr. C. Wütig.
Psychische Studien. Dezember 1887. 87
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