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108 Psychische Studien. XV. Jahrg. 3. Heft. (März 1888.)
diesem Zustande einen Mord in seiner Familie oder an
seinem besten Freunde begehe; wird da noch sein in diesem
Zustande handelndes Ich wirklich identisch sein mit seinem
vorherigen tagwachen vernünftigen Ich ? Setzen wir an die
Stelle der Trunkenheit die psychischen Zustände des Traumes,
Somnambulismus, Mediumismus u. s. w., wird alsdann nicht
derselbe Fall vorliegen? Also ist hieraus doch nur zu
schliessen, dass es in einer und derselben Person
wirklich verschiedene Ichzusammenfassungen giebt, nicht
aber, dass diese Ich's mit und unter einander identisch
sind. Ob denn Herr Kirchbach wohl die Fichte'sche Philosophie
kennt mit ihrem: — „Ich bin ich" und „Ich bin nicht
ich" ? Darin liegt dieses ganze uns vorliegende Problem in
abstracto. Wir wollen das an einem vielleicht allgemein
verständlicheren Beispiele beweisen. Eins ist doch gewiss
und unstreitig gleich Eins. Wenn aber diese Eins die
Zusammenfassung von unendlich vielen Einheiten = oo (unendlich
) ist, so ist doch diese Allzusammenfassung aller
Einheiten nicht absolut gleich dem unendlichsten Einstheilehen
, aus dem die unendliche Eins oder Einheit mit
gebildet ist. 1 ist also z. B. gleich und ungleich (1+11),
(2+10) u. s. w., wenn wir die (12) auch als eine Einheit
in Nummern fassen, wie wir es mit jeder Zahl thun können.
So ähnlich ist es mit der Zusammenfassung der Ich-Einheiten.
Dies qualitative Zusammenfassen in eine Einheit ist nur
allein etwas Identisches oder Wesensgleiches daran, die
Werthe oder Quantitäten dieser Einheiten aber sind in sich
und unter einander notorisch verschieden.
Identisch ist und bleibt also nur die Person (Persona
= die Larve), durch die diese Ichs sich kundgeben, per-
sonare, d. h. hindurchtönen. Im tagwachen Zustande beherrscht
die Yernunft das selbstbewusste Ich derart, dass
es durch die allseitigen Vernehmkräfte dieser Vernunft im
Gleichgewicht aller seiner Functionen erhalten wird, wodurch
es unmöglich wird, dass sich eine dieser Ichfunctionen über
die anderen vorwaltend und ohne besonderen Gesammtzweck
erhebt und ausschliesslicher zur Geltung briugt. Bei gestörtem
oder verdrängtem tagwachen Ich- oder Selbst-
bewusstseins- oder Gleichgewichts-Zustande tritt gleichsam
eine traumhafte, schlafwandlerische Zerrüttung dieses allseitigen
Gleichgewichts ein; die Herrschaft der Gesammt-
vernunft hört auf, und die einzelnen Kräfte der Seele
bringen sich je nach ihren inneren Trieben oder zufälligen
äusseren Anregungen ohne alle Rücksichtnahme auf die
anderen zur Geltung, Dadurch können sie in ihrem vereinzelten
Falle momentan oft Grösseres leisten, als ihnen
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