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Kurze Notizen.
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Alsbald verbreitete sich das Gerücht, Kaiser Wilhelm sei
plötzlich nach San Remo abgereist. Andere, nicht minder
beunruhigende Gerüchte coursirten während der Mittagsstunden
, welche sich alle als unbegründet erwiesen. Kaiser
Wilhelm selbst erfreut sich des besten Wohlseins, fühlt
sich, wie ausdrücklich constatirt wird, frisch und kräftig".
(„General-Anzeiger für Leipzig" vom Montag dem 5. März er.)
— Dies geschah genau sieben Tage vor dem Tode des
Kaisers. Bei dem orkanartigen Sturme erinnern wir an
Faust* Frage: — „Sind wir ein Spiel von jedem Druck der
Luft?" — Wir werden sicher mit der Zeit noch Näheres
erfahren über den Eindruck, den dieser Vorgang auf den
hohen Verstorbenen selbst gemacht haben dürfte. — Schliesslich
erlaubt sich der Berichterstatter ein eigenes Erlebniss
vom Morgen des 9. März er. mitzutheilen. Schon am vergangenen
Abend 6 Uhr hatten falsche Gerüchte vom bereits
erfolgten Tode des Kaisers die Stadt Leipzig durchschwirrt.
Die seelische Aufregung war gross. Gegen 9 Uhr erfuhr
ich den Wiederruf dieser Nachricht durch einen mir befreundeten
höheren Postbeamten. Trotzdem vermochte ich
diese Nacht vor Morgens 4 Uhr nicht einzuschlafen. Ich
gedachte der Bedeutung dieses Kaisers und Königs auch
für die Schicksale meiner elterlichen Familie. Im Jahre
1866 war mir mein jüngster noch einzig überlebender Bruder,
des Vaters einzige Stütze in seiner Profession, nachdem er
die Schlacht von Königgrätz mit durchgefochten, auf dem
Rückmarsch von Fallbach vor Wien in die Heimath im
Anfang August an der Cholera erkrankt und in Brünn mit
circa 12000 seiner Leidensgefährten auf dem Kirchhof von
Obrowitz beerdigt worden. Am andern Morgen nach 7 Uhr sass
ich, von der schlaflosen Nacht nervös erschöpft, mit meiner
Familie zu Leipzig am Frühstückstische und besprach mit
ihr den Fall und die möglichen Folgen des voraussichtlich
nahen Todes des Kaisers, welcher nach meiner Meinung wohl
sofort durch Kanonenschüsse aller Welt kund gegeben werden
würde. Da hörte ich plötzlich, trotzdem starker Südwestwind
von uns aus in der Südvorstadt nach der nördlich gelegenen
Stadt zu wehte, volles Glockengeläute wie von allen
Thürmen. Meine Frau und Kinder lauschten mit mir und
hörten es ebenfalls ganz deutlich. Sie eilten sogleich an
die Fenster und öffneten einen Flügel, um besser zu hören,
weil der Wind stark an den Scheiben rüttelte. Aber von
draussen her war nichts zu vernehmen. Nachdem das
Fenster wieder geschlossen war, glaubte meine Frau noch
einen dröhnend summenden Ton von einem im Ofen
kochenden eisernen Topfe mit Wasser zu vernehmen, wel.eher
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