http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1888/0197
Kurse Notizen,
191
volle, im Grossen schwelgende Geist hatte auch für die
kleinen, intimen, so reizenden Freuden des Zusammenseins
einen fast kindlichen Sinn; wie wenige verstanden und verstehen
wie er die mannichfaltigen Brechungen des Lebensstrahls
zu schätzen. Jede Mahlzeit gewährte ihm Vergnügen
, das dadurch an Heiz nichts vorlor, dass sie sich
täglich wiederholte. „Behalte ich nur, was ich habe, so
will ich unendlich zufrieden sein," ist der Refrain an jedem
Jahresabschlüsse Einmal schreibt er das Epigramm:
'Götter, öffnet die Hände nicht mehr, ich würde erschrecken,
Denn ihr gabt mir genug: hebt sie nur schirmend empor!' —"
Wer wünschte nicht wie Hebbel nach den Kämpfen dieses
Diesseits am Abende seines Lebens ebenso glücklich gestimmt
ins noch seligere Jenseits hinüberzuschlummern?!
„In Liebesbanden. Nach Bakin's japanischem
Roman 'Kumono Tayema Arna Yo NoTsuki' (Der
in einer regnerischen Nacht durch einen Wolkenritz
scheinende Mond), unter Benutzung der amerikanischen-
Bearbeitung von Edward Greey, mit Autorisation ins Deutsche
übertragen von Hans Werner" (Stuttgart, Deutsche Verlags-
Anstalt, 1888) 8°, 5 Mk. — enthält die Schilderung eines
sterbenden Weibes Hachisubä (Lotusblatt), welche von ihrem
eigenen Schwager Takeakira bei Ausübung einer Blutrache
gegen einen bei ihr befindlichen Priester Saikai aus Versehen
erstochen worden ist. „Sie fiel auf ihr Angesicht und
'wechselte ihre Welt'," heisst es weiter. „In dem nämlichen
Moment barg sich der Mond hinter einer Wolke, und ein
leuchtendes Etwas, das von der Leiche ausging, schwebte
zum Gemach hinaus, erweiterte sich wie eine Sonne und
zeigte im Mittelpunkt einen schönen Hirsch, dessen Farbe
ein harmonisches Gemisch von ßoth, Weiss, Braun, Gelb
und Schwarz war. Die Erscheinung verweilte wenige Augenblicke
, dann nickte der Hirsch leicht mit dem Kopfe, die
Farben schwanden allmählich, die Lichtstrahlen verkürzten
sich, und der geheimnissvolle Ball zog fort und entschwand
zwischen den Bäumen. Takeakira, der die Vision mit ehrfurchtsvollem
Staunen betrachtet hatte, kniete an der Leiche
seiner Schwägerin nieder, knirschte mit den Zähnen, zerfleischte
mit den Nägeln seine Arme und stöhnte vor Schmerz.
Als er die Sprache wiedergewonnen, sagte er: — 'Das ist
wunderbar! Ehrenwerthe Schwägerin, ich habe Dir unrecht
gethan. Deine Seele wird ohne Zweifel vom zukünftigen
Leben erlöst werden, und Du wirst zur Nirwana eingehen.
Ich will Dir schnell folgen auf dem einsamen Pfade.'" —
Um die Erscheinung des Hirsches in der entfliehenden Seele
zu erklären, bedarf es einer weiteren Leetüre des japanischen
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1888/0197