http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1888/0307
Wittig: Wer von uns ist heute spiritistisch krank? 301
an Stelle der ffeine'schen als echte Musterbilder aufstellen
könnte.*) Und selbst hier, auf seinem scheinbar eigensten
Wissensgebiete, macht er Fiaseo. Er greift Heine's angeblich
ganz schablonenmässiges Dichten unter vielen anderen ebenso
triftigen Gründen namentlich durch den folgenden an, dass
Heine die Nachtigall beim blühenden Rosenstrausse auch am
Tage schlagen lasse, während es doch aller Welt und
männiglich bekannt sei, dass sie nur Nachts flöte. Er beruft
sich zuletzt gar noch auf Brehmes „Thierleben", also einen
gewiegten Naturforscher. Und an dem Tage, an welchem
ich zuerst seine Behauptung las, hatte ich gegen Ende Mai
grade einer herrlich schlagenden Nachtigall Mittags ein Uhr
im hellen Sonnenschein fast eine \olle halbe Stunde im
nahen Leipziger Nonnengehölz zugehört! So ergeht es
Herrn Kirchbach, wenn er sich auf andere Wissenschafter
und deren Behauptungen verlässt und nicht selbst die
Natur erforscht. Er würde dann vielleicht richtiger gefunden
haben, dass tieine in seinem Gedicht: — „Das ist der alte
Märchenwald, Es duftet die Lindenblüthe u. s. w." — die
Nachtigall irrthümlich, oder vielleicht nur märchenhaft, noch
zur Zeit der Lindenblüthe schluchzen und jubeln lässt,
während sie dann bei uns bereits verstummt ist. Auch im
Spiritismus dürfte Herr Kirchbach ähnliche Erfahrungen
machen, wenn er nur einer Kuhe von Seancen geduldig
beiwohnen, und nicht seine Unmöglichkeits-Vorurtheile von
vornherein in sie hineintragen wollte. Hätte er anstatt
Brehm z. B. das auf spiritistisch-mediumistischem Wege entstandene
Büchlein: — „Heinrich Heine, der Unsterbliche
. Eine Mahnung aus dem Jenseits, Von dem
Rendanten D. Hornung, Verfasser der 'Neuen Geheimnisse
des Tages'." (Stuttgart, 1857, Verlag von J. Scheible)
272 S. 12° — auch nur flüchtig eingesehen, so würde er
vielleicht doch etwas stutzig über Heiners selbst im Jenseits
scheinbar noch nicht erschütterte Dichterroutine geworden
sein und einige andere Gründe gefunden haben, seine
Originalität auch noch nach dem Tode zu bewundern. Es
*) So hat er allerneuestens in den Augen sachkundiger Kritiker
durch sein pomphafter und onomatopoetischer als Hei?tef si — „Eine
starke, schwarze Barke" — klingen sollendes Gedicht: — „Trauermarsch
beim Tode Kaiser Friedrichs III.** — seiner eigenen
Poesie gründlichst den Trauermarsch mit geblasen im „Magazin",
Dresden, den 2X Juni 1888. — Wer, um nur Einiges zu rügen, auf
„Lebensiöser" — zweimal „grösser" (statt „böser") reimt, wer im
Refrain „die Kaiser, die todten", bald schlafen, bald wachen lässt, —
wer von Kaiser Friedrich singen kann: - „Dieser Mann war werth
zu weinen", anstatt: „beweint zu werden" —, nun, der hat seine Rolle
als poetischer Beurtheiler eines Heine wohl nahezu ausgespielt.--
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