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322 Psychische Studien. XV. Jahrg. 7. Heft. (Juli 1888.)
von den durch unverdientes hartes Schicksal betroffenen
Menschen ununterbrochen zum Himmel schreit?
Wahrlich, das Schicksal ist hart, grausam und, wie es
scheint, oft auch ungerecht. Aber Eines bedenke man doch:
In die Natur hat Gott das Prinzip der Entwickelung gelegt.
Jedes Lebewesen enthält Kräfte, durch welche sich nur
bestimmte Grade der Intelligenz entwickeln, und kein Lebewesen
sieht in seinem Denken und Erkennen über die ihm
eigene Intelligenz-Stufe hinaus. Wenn nun die Intelligenz-
Stufen sich wegen der Verschiedenheit der äusseren Lebensverhältnisse
von einander sehr unterscheiden, so müssen
auch die Forderungen an das Leben sich verschieden gestalten,
und dies ist ein wesentlicher Grund, vermöge dessen sich die
Interessen kreuzen, durch den soviel Elend in die Welt
kommt.
Dann bedenke man auch, dass jedes Elend nur nach
dem der eigenen Stufe geistiger Entwickelung angemessenen
Maaszstab empfunden und gemessen wird, wodurch jeder
Zustand des Daseins, wenigstens im Allgemeinen, zur Erträglichkeit
gelangt. Und wo das Ungemach unerträglich
wird, da erwacht des Menschen tief innerster Trieb und
bäumt sich auf gegen die vermeintlichen Ursachen seines
empfundenen Druckes und sucht nach seinem Grade der
Erkenntniss die Verhältnisse seines Lebens oder die seiner
Leidensgenossen umzugestalten. Was aber ist es denn, das
mit elementarer Gewalt die Fesseln der Knechtschaft
sprengt, wenn sie nicht mehr erleidlich sind? Es ist das
Prinzip der Gerechtigkeit, das aus der Quelle aller Intelligenz
entspringt, es ist Gott, der im einzelnen Menschen Ideen
zur Keife bringt, welche auf einen grossen Kreis der Gleichgesinnten
belebend wirken und schliesslich, tiotz aller Vor-
beugungs-Massregeln, eine Katastrophe in der menschlichen
Gesellschafts-Ordnung heraufbeschwören, gegen welche sich
alle irdische Macht der Staaten, alle Gewalt einer mächtigen
Priesterschaft, ohnmächtig erweist. Da fordert Gott die
Menschheit zum Nachdenken über ihre wahren Ziele des
Lebens auf, und im Stillen reifende Gedanken Einzelner
leiten die grossen Massen in neue Bahnen, die das Menschengeschlecht
nicht vorausgesehen.
Der Einzelne im Volke ist von geringer Macht; er gewinnt
sie erst, wenn seine Ideen einem Tedürfniss der Zeit entsprechen
, in der er lebt, und ei den Andern in der Anregung
vorausgehen kann. Der Erfolg ist nicht sein wesentliches Verdienst
, er ist nur durch Gottes Lenkung gegeben, und wahrlich
, es ist kein leeres Vertrauen auf die Macht des Unendlichen,
welches so mancher Fürst und so mancher Staatsmann in
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