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328 Psychische Studien. XV. Jahrg. 7. Heft. (Juli 1888.)
Legende fort im Munde der Bewohner dieser treuen Stadt.
In dem Garten eines Kabinetsratlies war es, wo dem jungen
Prinzen, der in der Tochter dieses Kabinetsrathes, Wilhelmine
Luise, eine ältere, fast mütterliche Freundin verehrte, diese
Verkündigung wurde.*) An einem schönen Sommerabend
stand der sechsjährige Prinz in diesem Garten vor seiner
Freundin, die ihm gerade die hübschesten Märchen erzählte,
als heftig die Klingel an der Gartenthür gezogen wurde.
Der prinzliche Diener sah auf und meldete: Ein junges
Mädchen von der Zigeunerbande (die damals gerade in
Potsdam allgemeines Stadtgespräch ward) wolle die Mamsell
sprechen. 'Die will uns gewiss etwas wahrsagen', meinte
Wilhelmine lächelnd zum Prinzen. Die Zigeunerin wurdo
vorgelassen. Sie war von eigenthümlich bestrickender
Schönheit und trug ihre Worte mit seltsam feierlichem
Ernst vor. —Zuerst wendete sie sich der Dame zu; nachdem
sie die Linien ihrer feinen Hand geprüft hatte, sagte
sie: — 'Du wirst die Frau eines Offiziers, mit einem Tigerfell
behängen, auf dem Sonne; Mond und Sterne in Vergoldung
prangen, und verziert durch unzählige goldene Schnüre und
Quasten, — aber es wird mit der Hochzeit noch dauern,
denn die Trophäe vom Brandenburger Thor in Berlin wird
herabfallen in der Nacht, und ein unglücklicher Krieg wird
kommen!' — Mamsell Wilhelmine war gleich hei dem ersten
Worten des Zigeunermädchens von Purpurröthe im Gesicht
übergössen, denn just ein so schmucker Offizier, wie der ihr
veiheissene, bewarb sich seit kurzem um ihre Hand. Und
die Wahrsagerin fuhr fort; — 'Der erste Sohn aber, den
du bekommen wirst, wird ein grosser Mann und ein Fürst
werden!' — Nun lachte Wilhelmine laut auf; der kleine
Prinz aber, von der Situation gefesselt, blieb lautlos und
unbeweglich, als die Zigeunerin in ihrer seltsamen Weise
fortsprach: — 'Der aber, der deinen Sohn zum Fürston
macht, wird ein Kaiser sein, und das ist dieser Prinz!' —
Mögen die freundlichen Leser, die diese Legende zum
erstenmal vernehmen, immerhin lächeln, — es leben noch
zuverlässige Gewährsmänner, die die Geschichte aus dem
Munde von Betheiligten genau mit allen Details erzählen
gehört haben. Der Diener selbst, der den jungen Prinzen
iu den Garten geleitet und Ohrenzeuge des ganzen Gesprächs
gewesen, hat sie zu wiederholten Maien erzählt, und er hat
auch noch den Tag erlebt, an dem diese merkwürdige
Prophezeihung ihrem vollen Umfange nach in Erfüllung
*) Man vergl. damit die anderen Prophezeihungen, welche Kaiser
Wilhelm erhalten hat, in „Psych. Stud." December-Heft 1887 S. 567 ff.
und Aprii-Heft 1887 S. 18U.
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