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372 Psychische Studien. XV. Jahrg. 8. Heft. (August 1888.)
der Erde liegt, habe sich verändert, sei gestorben! Pfui
über den Gedanken! Ophelia^ meine Ophelia schlummert nur.
Denn wisset, ehrwürdiger Mann, es ist ein Unterschied zu
machen zwischen schlummern und verwesen, zwischen auferstehen
und liegen bleiben, der Blume und der Larve,
zwischen dem Jenseits und Diesseits, zwischen dem Ebenbilde
Gottes und einem Affen, der trotz aller menschlichen Kunststücke
doch immer ein gemeiner Affe bleiben wird, und aucli
zu allerletzt zwischen Glauben und Unglauben, denn der
Glaube rechnet mit dem warmen Gefühl und der Unglaube
mit dem kalten Verstände. Weil ich nun glaube, darum
fühle ich, und weil ich fühle, sehe ich mit dem Herzen,
denn wisset abermals: der Verstand wäre nicht so kalt, wenn
er mit der Flamme des Herzens in Verbindung stände, und
es giebt Blinde, die besser sehen als die Gesunden, weil
ihre erloschenen Augen sich nach innen richten und in der
Welt der Gedanken lesen. Weil dem so ist, also lebt
Ophelia noch für mich, wenn schon gewisse Dummköpfe —
verzeiht, ehrwürdiger Mann, wenn ich Euch zu ihnen rechne,
— behaupten, sie sei unkenntlich in Staub zerfallen. Denn
wie gesagt, die Vorstellung, lieber Freund, die Vorstellung
macht alles. Wie auf der Bühne, so im Leben! Der Geist
ist's, der die Materie belebt, nicht umgekehrt. Wolltet Ihr
behaupten, dass Ihr in einem Toten nur den Kadaver sehet,
so soll Euch das unbenommen bleiben; Ihr müsst es Euch
aber auch gefallen lassen, dass Einer kommt und zu Euch
sagt: ,Heda, Gevatter, düngt Eure Gedankenlosigkeit mit
dem Kadaver, dass sie lebendig wird/ So beherrscht der
Tod die Geister, weil er allein das ewige Leben enthält;
wer sein Räthsel losen kann, der wird doppelt weise, denn
er löst zu gleicher Zeit das Rätsel des Lebens. Wie gesagt,
wer um Mitternacht bei Vollmondschein den Muth hat, in
sein eigenes Grab zu steigen, um an dem Sarge seiner
Liebsten zu pochen, dem wird sich das Geheimniss er«
schliessen, und er wird Erlösung finden von seinen Sünden
und das ewige Leben, von dem ich sprach. So steht's
geschrieben in dem grossen Buche von dem Kabbalismus
aller Dinge. Und verlasst Euch, ehrwürdiger Mann, ich
warte, um zu pochen." . , .
Nachdem der Schauspieler die Geschichte seiner Jugendliebe
zur Schauspielerin Ophelia und deren frühen Tod, über
den er irre geworden war, dem Todtengräber erzählt, „wurde
diesem unheimlich zu Mut angesichts der Beharrlichkeit
mit welcher der Geistesgestörte die Vernunft für sich in
Anspruch nahm. "Eine sehr traurige Geschichte', warf der
Alte ein, nur um etwas zu sagen. 'Also Ihre Braut Hegt
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