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414 Psychische Studien. XT. Jahrg. 9. Heft. (September 1888.)
alten Bordeaux, eine Tasse mit Milch, die er verabscheute,
mit Schokolade gefüllten Kuchen, die er leidenschaftlich
gern ass, auf den Tisch stellte. Da waren wiederum davon
nur das Wasser und die Milch verschwunden. In allen
folgenden Nächten geschah stets dasselbe. Er quälte sich
aber doch mit dem Zweifel, ob er nicht somnambul sei und
das Alles selbst thue in veränderter Appetitsneigung. Er
berusste sich — aber sämmtliche Gegenstände waren tadellos
rein geblieben. Niemand hatte wegen seiner Sicherheitsschlösser
ins Zimmer dringen können. Nun erst legte er
sich die furchtbare Frage vor: „Wer also war jede Nacht
hier bei mir?" Sein Kutscher hatte ihn seit einem Monat
schwor erkrankt verlassen. Da plötzlich Hess der Spuk bei
ihm nach, seine alte Heiterkeit kehrte zurück. Dafür war
ein anderer Nachbar Legite in genau denselben schrecklichen
Zustand gerathen, den er nun wieder einem Flussfieber
zuschrieb. —
Im kommenden Frühling sah er eines Morgens beim
Spazierengehen neben einem Kosenbeete „ganz deutlich, dass
dicht neben ihm der Stengel einer der schönsten Rosen
abknickte, als ob sie eine unsichtbare Hand gepflückt hätte;
dann stieg die Blume in jener ßogenlinie aufwärts, welche
ein Arm beschrieben hätte, der sie zum Munde führen wollte,
und blieb endlich leuchtend, ganz frei, unbeweglich und
entsetzenerregend, nur drei Schritte vor mir in der Luft
bchweben." Von wahnsinnigem Entsetzen erfasst, stürzte
er auf sie zu — sie war verschwunden! Er dachte an
Hallucination. Aber der frisch abgeknickte Stengel war
noch da. Er glaubte nun gewiss, dass neben ihm ein unsichtbares
Wesen existire, das ihn wieder heimsuche. In
einer Hochsommernacht (am 20. Juli 9 Uhr Abends) lag" er
schlafend bei offenen Fenstern in einem Fauteil, ein Buch
vor sich. Nach etwa 40 Minuten Schlafs erwachte er von
einer sonderbaren Empfindung. Plötzlich schien es ihm, als
ob sich eine Seite des Buches von selbst umgeblättert hätte.
Nach vier Minuten geschah dasselbe mit einem zweiten
Blatte, wie wenn es ein Finger umschlüge. Er war schon
vorher von seinem Sitz aufgestanden — jetzt glaubte er den
Unsichtbaren im Sessel sitzend und blätternd, wollte ihn
mit einem Sprung packen: da stürzte der Sessel am, als
wenn Jemand von ihm wegflöhe, die Lampe fiel gleichfalls
um, löschte aus, und der Cylinder zerbrach. Das offene
Fenster klapperte gegen den Verschluss... Er selbst glaubte
das entschieden nicht gethan zu haben, sondern der Andere,
jener Unsichtbare, Unfassbare, welcher ihm Minute für
Minute sein Leben verstörte und aussog.
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