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470 Psychische Studien. XV. Jahrg. 10. Heft. (October 1888.)
wirklich kämpfen kann, sobald alle diese Geierschnäbel auf
ihn loshacken, wenn ihm die zähe, blinde Begeisterung fehlt,
die man Fanatismus nennt? Und wie in aller "Welt soll
er etwas Negativem gegenüber fanatisch werden ? Fanatisch
begeistert für die Idee, dass es keinen Gott giebt! Und
ohne Fanatismus kein Sieg! Hören Sie wohl?" —
Sie standen vor einem Erdgeschoss, wo man einen der
Vorhänge aufgezogen hatte, und durch die geöffnete Luftscheibe
klang es von klaren Frauen- und Kinderstimmen
hinaus zu ihnen: —
Ein Kind geboren in Bethlehem,
Dess freuet sich Jerusalem,
Hallelujah, Hallelujah!
Schweigend gingen sie weiter. Die Melodie, namentlich
die Töne des Flügels, folgten ihnen die stille Strasse hinab.
— „Hörten Sie wohlfc<; begann Hjerrild, „die Begeisterung,
die durch dies alte hebräische Siegeshurrah hindurchklang?
und diese beiden jüdischen Städtenamen! Jerusalem, das
war nicht nur symbolisch, die ganze Stadt, Kopenhagen,
Dänemark; das sind wir, das christliche Volk der Völker!u
— „Es giebt keinen Gott, und der Mensch ist sein Prophet",
sagte Niels bitter, aber auch tiefbetrübt. —
„Ja, nicht wahr ?" spottete Hjerrild. Nach einer kleinen
Weile sagte er: — „Der Atheismus ist doch grenzenlos
nüchtern, und sein Endziel ist doch schliesslich nichts andres
als eine Menschheit ohne alle Illusion. Der Glaube an den
leitenden, richtenden Gott, das ist die letzte, grosse Illusion
der Menschheit, und wenn sie diese verloren hat, was dann?
Dann ist sie klüger geworden, aber reicher, glücklicher?
Das glaube ich nicht." —
„Aber", rief Niels aus, „begreifen Sie denn nicht, dass
an dem Tage, wo die Menschheit frei jubeln kann: Es giebt
keinen Gott! dass an dem Tage wie auf einen Zauberschlag
ein neuer Himmel und eine neue Erde entsteht? Erst dann
wird der Himmel jener freie, unendliche Eaum statt eines
drohenden Späherauges, erst dann wird die Erde unser,
erst dann gehören wir der Erde an, wenn jene dunkle Welt
der Seligkeit und der Verdammniss da draussen wie eine
Seifenblase zersprungen ist. Die Erde wird unser wahres
Vaterland, das Heim unseres Herzens, wo wir uns nicht
wie Fremdlinge nur eine kurze Spanne Zeit aufhalten,
sondern für die ganze Dauer unsrer Zeit. Und welchen
Vollgehalt wird das nicht unserm Leben verleihen, wenn
dieses Leben Alles umschliessen wird, wenn ausserhalb
desselben nichts mehr liegt! Der unendliche Liebesstrom,
der jetzt zu dem Gott aufsteigt, an den man glaubt, wird
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