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472 Psychische Studien. XV. Jahrg. 10» Heft. (October 1888.)
Damit sehliesst dieses interessante neunte Kapitel.
Was uns dabei nur verwundert, ist, dass der vorher so
scharfsinnige Hjerrild sich zuletzt durch die Sophismen von
Niels Lyhne so leicht bestechen zu lassen scheint. Niels sagt
ja viele unbestreitbare Wahrheiten, aber sie gelten alle nur
unter gewissen Einschränkungen. Wir wollen einige zu
schroffe Behauptungen desselben erörtern und auf ihren
wahren Werth zurückzuführen suchen. Zuerst ist der Satz:
— „Es giebt keinen Gott, und der Mensch ist sein Prophetl"
— zwar sehr geistreich durch die in ihm liegende Antithese
formulirt, aber nur zum kleinsten Theil war. Es giebt
höchstens nur keinen solchen Gott, wie ihn die verschiedenen
Secten des Heideu- und Christenthums sich als persönlichen
Rachegott in beschränktester Weise vorstellen. Wie aber
sonst Gottes Eigenschaften, seine Persönlichkeit oder Un-
persönlichkeit, beschaffen sein mögen, das weiss doch Herr
Niels Lyhne ebenso wenig als selbst die alleraufgeklärtesten
Denker der Menschheit. Gott, philosophisch als die erste
Ursache des Alls, folglich auch der Erde und der Menschheit
selbst in ihrer höchsten Vollkommenheit, aufgefasst und
vorausgesetzt, muss doch wohl auch die höchsten Eigenschaften
der Natur und des vollkommensten Menschen und
Denkers in sich tragen und sie noch um ein unermessliches
Theil überragen, als das Ganze der Menschheit und der
Schöpfung den einzelnen Menschen überragt. Mithin ist eine
Gottesleugnung in so kategorischer Weise nicht möglich,
weil logisch unwahr. Ganz von sich selbst entsteht doch
kein Mensch, er kann sich folglich nicht allein selbst fürchten,
nicht bloss auf sich selber hoffen. Die Gegenwart eines
Jeden ist stets durch die Vergangenheit und Zukunft mit
bestimmt, also abhängig von diesen uns stets dunklen
Mächten, die wir auch als Ursache und Ziel unseres Daseins
bezeichnen können. Nun giebt es aber einen doppelten
Ursprung des Menschen: körperlich ging er aus der materiellen
Natur und aus zw^i dieselbe abschliessenden oder in sich
vereinigenden elterlichen Persönlichkeiten hervor, geistig
aber aus dem geistigen Triebwerke alles Löbens und Strebens
in Vergangenheit und Gegenwart, wie sie in seine Sinne und
Gedanken beständig einfliessen. Und so entwickelt er sich
weiter und hindurch bis zu seinem Ausgange, welcher ebenfalls
ein körperlicher und geistiger ist. Es ist aber wohl
ein grosser Irrthum von Niels, wenn er sich körperlich und
geistig allein auf diese Erde beschränken zu können glaubt.
Schon materiell genommen, ist das nicht richtig und zutreffend
. Unsere Erde hängt mit allen übrigen Gestirnwelten
, zunächst mit Mond, Planeten und Sonne durch den
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