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54 Psychische Studien. XVI. Jahrg. 2. Heft. (Februar 1889.)
der Individualität , wie dies in allen religiösen und in den
meisten philosophischen Lehrsystemen geschieht, so ist er
gezwungen, ihr ein dem unsrigen analoges Selbstbewusst-
sein zuzuschreiben, weil wir uns von einem anders beschaffenen
auch nicht die schwächste Idee machen können.
Jeder individualistische Gottesbegriff wird dso nothwendig
durch anthropomorphe Vorstellungen verwirrt. Der Atheist
leugnet Gott, weil er mit seinen Sinnen nichts in der
Natur wahrnimmt, was eine von aussen in die Weltordnung
eingreifende Intelligenz verräth, weil er, sich
selbst an Gottes Stelle denkend, sich nur als sinnlich
wahrnehmbar und sinnlich wahrnehmend vorstellen kann;
der Deist, im Gegentheil, behauptet das Dasein Gottes,
weil nach seiner Anschauung die Natur auf intelligenter
Basis angelegt ist, weil sein Causalitätsbedürfniss
ohne die Annahme einer mit Bewusstsein und Denkvermögen
begabten Gottheit nicht befriedigt wird, — oder
was allerdings viel einfacher ist, aus blindem Gehorsam
gegen ein religiöses Dogma. (Der Polytheismus kann
hier, wie es schon der Name besagt, nicht in Betracht
kommen.) Immerhin steht fest, das die Attribute der
Gottheit, welche sie auch immer sein mögen, nur aus
unserem Verstände und aus unserer Anschauungsweise
gezogen werden können, was ihnen von vornherein den
Charakter absoluter Bestimmtheit benimmt. Jeder, dem
nicht ein religiöses Dogma seinen Gottesbegriff fix und
fertig liefert, wird sich also einen seinem Geschmack und
seiner persönlichen Denkweise entsprechenden Gott ausmalen
. Wie sollte unter diesen Umständen an den allgemein
gültigen, logischen oder experimentalen Beweis des
Daseins Gottes gedacht werden können? Wie das Selbst-
bewusstsein, die Anschauungsweise und das Denkvermögen
einer das All durchdringenden, beherrschenden und lenkenden
Individualität beschaffen sein mögen, davon haben
wir nicht die entfernteste Ahnung. Gott ist seinen Merkmalen
nach unserem Verstände ebenso verborgen, wie das
Absolute. Es ist möglich und sogar wahrscheinlich, dass
in der transcendentalen Da&insstufe, welche wir beim
Wegfall des Zellenleibes betreten, ein höheres Bewusstsein
uns dem Absoluten und damit der Gottheit nähert; vor
der Hand aber sind wir hinsichtlich der letzteren ausschliesslich
auf unser Herz angewiesen: das Dasein
Gottes ist für uns Glaubens-, nicht Verstandessache.
Was wirksamer als alle erdenklichen logischen Beweisgründe
unseren Glauben an einen selbstbewussten Urgrund
der Dinge befestigt, ist das Gefühl, welches sich in den
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