http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1889/0223
Schmoll: Zerstreute Ideen in Sachen des Spiritismus. 215
Nun kann aber Ungleichheit der Organisation gegeben sein;
der der Versuohung Unterlegene kann einer Familie entstammen
, welcher die Anlage zu gewissen leidenschaftlichen
Erregungen erblich anhaftet, während der andere einen
apathisch angelegten Organismus mit auf die Welt brachte.
In diesem Falle müsste unser Urtheil offenbar diesen
Unterschieden Rechnung tragen, ehe es sich anmaassen
könnte, in der Frage der Verantwortlichkeit endgültig zu
entscheiden. Wir sind also in einem gewissen, oft sogar
in sehr hohem Grade von den Einflüssen unseres Organismus
abhängig und nur insofern einigermaassen frei, als sich
unser Wille, sei es mit oder ohne Erfolg, gegen die
Hindernisse, die sich ihm entgegenstellen, sträuben kann;
wäre dem nicht so5 so müsste man auch Stumpfsinnige für
den ihnen anhaftenden Mangel an Vernunft verantwortlich
machen. Dass aber Willensfestigkeit an sich schon Tugend
sei, ist nicht anzunehmen, da die meisten Verbrecher, und
zwar gerade die schuldigsten, eine grosse Willensstärke an
den Tag legen.
Eine andere, hier sehr ins Gewicht fallende Frage ist
aber die, ob dieser Bruchtheil von Un v er an t wortlich
k e i t ein absolut unverschuldeter, oder ein im Grunde
uns selbst zuzuschreibender ist. Ich glaube das letztere,
indem ich annehmen muss, dass Nichts an unserem Wesen
ist, was sich nicht durch persönliche Willensäusserungen
demselben assimilirt hätte; dass wir also alle scheinbar
ererbten Eigentümlichkeiten unserer Natur aus eigenem
Triebe der Aussenwelt entzogen und in uns aufgenommen
haben, ganz wie wir mit völliger Freiheit der Wahl Nahrung
zu uns nehmen und dadurch unseren Körper in günstigem
oder ungünstigem Sinne modificiren. So betrachtet, wäre
unsere Verantwortlichkeit also allerdings eine sich auf unser
ganzes Wesen erstreckende. Aber, wie ich schou oben
andeutete, ein grosser Theil derselben ragt in unsere frühere,
ausserphänomenale Existenz zurück und entzieht sich unserer
Kritik. Die irdische Gerechtigkeit ist unfähig, hier
die richtigen Grenzen zu ziehen, und wird deshalb stets
eine verkehrte und mangelhafte bleiben. Unsere ganze
Persönlichkeit ist das Resultat einer von innen heraus
wirkenden Selektionsthätigkeit, welche auf eine unabsehbare
Vergangenheit zurückreicht. Die Genialität ist nicht, wie
die doktrinären Deterministen behaupten, ein pathologischer
Zustand, eine Nervöse, sondern das erhebende Schauspiel
einer in und durch sich selbst zu hoher Entwickelung gelangten
Individualität; geniale Schöpfungen und Ideen sind
Reminiscenzen einer durchlebten höheren Existenz.
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1889/0223