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216 Psychische Studien. XVI. Jahrg. 5. Heft. (Mai 1889.)
Wie unsere ererbten moralischen Mängel, so können
sogar auch alle uns zustossenden Unfälle, alle körperlichen
Gebrechen, Beschädigungen und dergleichen im Grunde nur
uns selbst zuzuschreiben sein. Ich kann mir in der That
keinen dieser Zufälle denken, welcher nicht auf einen Mangel
an Wissen, Wollen oder Fühlen, also auf einen Mangel an
jenen Fähigkeiten zurückzuführen wäre, die unseren intimen
Affinitäten entsprangen, die nach und nach ein Wesen
unseres Ranges aus uns machten, und die bis zur höchsten
Vollendung auszubilden unsere Aufgabe ist.
Die Behauptung, dass es in jener Welt keinen Lohn
und keine Strafe im plat tvu lgären Sinne des
Wortes giebt, dass den verworfensten Menschen so gut
wie den Edelsten die Perspektive einer erhöhten, verklärten
Existenz gelassen werden kann, und dass unsere Leiden und
Gebrechen nicht als von aussen kommende, sondern als
unserem eigenen Wesen entsprungene Dinge zu betrachten
sind, könnte Manchen zu der Ansicht verleiten, solche Anschauungen
seien eben so verderblich wie die des Materialismus
; sie seien ihnen zwar nicht prinzipiell identisch, laufen
aber doch in ihren praktischen Konsequenzen auf dasselbe
hinaus. Freilich verkenne ich nicht den paradoxen Charakter
dieser Anschauungen; trotzdem wäre aber jener Vorwurf
gänzlich ungerechtfertigt, da ich ja keineswegs sagen will,
dass allen Menschen, guten wie schlechten, in jener Welt
eine gleiche Erhebung zu Theil wird. Ich neüme im
Gegentheil an, dass es dort eben so gut wie hier ein Hoch
und ein Nieder giebt, und dass derjenige, welcher hier
keiner edeln Regung fähig war, auch dort, obschon iu
einer höheren Sphäre sich bewegend, ganz bestimmt eine
relativ niedere Rangstufe behaupten wird. Das zukünftige
Leben stelle ich mir dar als ein seiner Anlage nach
höheres, wobei sich aber ganz von selbst versteht, dass der
schon auf Erden sich mehr oder minder bekundende relative
Werth eines Jeden über die Rangstufe bestimmt, welche er
den ihn umgebenden Wesen gegenüber einnimmt. Gerade
durch den Wegfall der materiellen Maske, in Folge dessen
der Werth oder Nichtwerth eines Jeden offen zu Tage tritt,
geschieht dem Prinzip der Gerechtigkeit Genüge und kommt
eine Ausgleichung zu Stande, deren wir uns hienieden nur
bewusst zu sein brauchen, um die Notwendigkeit zu fühlen,
einer wahren, inneren Veredlung entgegenzustreben. Obige
Ansichten verweisen den Menschen allerdings auf sich
selbst und sind geeignet, einem Jeden, selbst dem Verworfensten
, jede Furcht vor dem Tode zu benehmen; aber
sie beschränken unser Wesen nicht auf dessen irdisch-
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