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Schmoll: Zerstreute Ideen in Sachen des Spiritismus. 271
alles Respectable zu bewitzeln und als Vertreter von Ideen
zu gelten, welche die blöde Menge als kühne, als gewagte
ansieht. Das ungebildete Volk, auf dessen brutale Gesinnung
diese Worthelden, sei es bewusst oder unbewusst,
spekuliren, ist in der Tliat leicht durch solche Rodomontaden
zu kapern; denn jede Rohheit imponirt ihm, und nichts
liegt ihm ferner als das Verständniss des wahrhaft Grossen
und Schönen. Wenn also solch ein gelehrter Herr vor
einem derartigen Publikum (ein anderes wird er selten
suchen!) den bewunderungswürdigsten Heroen der Kulturgeschichte
den „Fusstritt des Esels" (coup de pied de
l'ane) versetzt, indem er z. B. Socrates einen Narren, Jesus
einen Hallucinirten, Giordano Bruno einen Phantasten,
Jeanne & Are ein hysterisches Frauenzimmer nennt, so kann
er mit Bestimmtheit auf einen enthusiastischen Beifall
rechnen, da keiner der Zuhörer einen Augenblick daran
zweifeln wird, dass er, der Redner, thurmhoch über jene
Erscheinungen hinausragt, und vor allem die unverzeihliche
Thorheit nicht begehen würde, sein Leben einer puren Idee
zu opfern; das kann offenbar nur Einer thun, der zum
Narrenhause reif ibt. Um solche Triumphe brauchen wir
wahrlich die Herren Kraft-Stoffler nicht zu beneiden! Mögen
sie immer die „Aufklärung" im Munde führen, sich mit
ihrer „positiven Wissenschaft" breit machen, über Kant die
Achseln zucken, Schopenhauer einen Träumer, Heilenbach
einen Tollhäusler und unsere hervorragendsten Dichter
Nevropathen nennen: dies alles wird nicht hindern, dass
die Erde sich dreht, und dass unsere philosophische Erkenntnis
auf den Schwingen der Begeisterung ihrem
Perihelium entgegenjubelt.
Ein zweiter Faktor dieser Ideenrichtung ist eine
mangelhafte Geisteskultur. Der Materialist besteht
darauf, die Welt seiner fünf Sinne nicht als das blosse
Spiegelbild seines eigenen körperlichen Sensoriums, sondern
als eine für alle existirenden Wesen identische Realität,
und zwar als die einzig denkbare Realität aufzufassen; dass
wir nur in sehr beschränkten Beziehungen zur Aussenwelt
stehen und von letzterer nur ein Infinitesimalbetrag zu
unserem Bewusstsein gelangen kann, ist nicht in sein Verständniss
zu bringen. Diese Beschränktheit des Auffassungsvermögens
und der materialistische Wissensdünkel — denn
beide finden sich fast immer beisammen — sind einer jener
Contraste, welche einen unwiderstehlichen Reiz auf unsere
Lachmuskeln ausüben, leider ist der Materialismus ein zu
unheimlicher, ein zu drohender Geselle, als dass man ihm
gegenüber zum Lachen Lust hätte.
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