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272 Psychische Studien. XVI. Jahrg. 6. Heft. (Juni 1889.)
Ein dritter Charakterzug dieser traurigen Verirrung
des menschlichen Geistes ist — der Egoismus. Der
Materialist liebt es, seinen Horizont so enge als möglich zu
ziehen und sein Interesse abzuwenden von allem, was ausserhalb
seines Greif Vermögens liegt; das nennt er „praktisch
sein44. Alles Grossartige, Gewaltige und Erhabene ist ihm
ein Gräuel, weil es ihn selbst überragt und in den Schatten
stellt; diess nennt er „wissenschaftliche Nüchternheit". Was
um ihn herum cxistirt, muss für ihn geh)acht sein, sich
auf ihn beziehen, ihm zum Besten gereichen. So kommt
es denn, dass der bestirnte Himmel ihm so gleichgültig
ist, wie ein falscher Groschen; dass er von einer teleologisch
angelegten Weltordnung, von Tugend, von Begeisterung,
von Opferfähigkeit, von Genialität, von einem höheren
Daseinszwecke, von einem Jenseits nichts hören will und das
alles für Hirngespinnste, für Ausgeburten philosophischen
Wahnsinns erklärt.
Ein viertes begünstigendes Moment dieser Anschauung
ist jene angeborene, pessimistisch angehauchte
Gemüthsverfassung, in Folge deren der Mensch die
ganze ihn umgebende Welt wie durch ein schmutziges Glas
schaut, und welche ihn unfähig macht, von irgend welchen
Heizen affizirt zu werden, die nicht auf die äusseren Sinne
gerichtet sind. Wer an diesem geistigen Organisationsfehler
leidet, wird folgerichtig von zarten Regungen, von gehobener
Seelenstimmung und dergleichen keine Ahnung haben,
sondern einem verstimmten Klavier gleichen, dem der vortrefflichste
Künstler nur Katzenmusik entlocken kann; er
wird jeder Anspielung auf eine andere Daseinsform als die
irdische mit cynischem Hohne begegnen, bei jeder Gelegenheit
die Einrichtung der Welt bemäkeln und die unerschütterliche
Ueberzeugung verfechten, sie sei das Werk eines bliuden
Zufalls und nicht einer geordneten Willensthätigkeit.
Diese trostlose Doktrin, welche sich anmaasst,
jeden Aufschwung der Seele zu hemmen, unsere edelsten
Empfindungen zu unterdrücken, unserer Begeisterung Blei
an die Flügel zu hängen, jeden Glauben in uns zu ertödten;
welche es sich zur Aufgabe gestellt hat, die Menschheit
ihrer allein den geistigen Fortschritt bedingenden Ideale
und Hoffnungen zu berauben, droht unser ganzes Kulturleben
zu verthieren. In der Wissenschaft, in den
Künsten, in der Politik, in der Literatur und der Journalistik
— in allen Schichten der Gesellschaft grinzt uns ihre
höhnische Maske entgegen. Wenn nicht bereits die
Aurora eines gewaltigen Umschwunges der Ideen an unserem
philosophischen Horizonte erglänzte, so stände zu befürchten,
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