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296 Psychische Stadien. XVI. Jahrg. 6. Heft. (Juni 1889.)
wuchernde Krankheit ihrer Seele auch den Körper. Ein
schleichendes Fieber zehrte an ihr/'
,,Soinnambule Zustände stellten sich dazu ein, die
ihre Umgebung in Erstaunen und Furcht versetzten. Immer
mehr griff die Schwäche um sich, und Niemand bezweifelte,
dass sie bald durch den Tod erlöst sein werde. — Rathlos
standen die Aerzte um ihr Krankenbett. In der That, sie
sahen nur ihre Auflösung vor ihren Augen sich langsam
vollziehen. Der Athem wurde schwächer und hörte dann
auf. Bleich, regungslos lag sie da, das rührende Bild einer
edlen Dulderin, die ausgelitten. An ihrem Todtenbett
weinten Vater und Mutter, die Geschwister, die Freunde
des Hauses. Die Anzeige ihres Himcheidens wurde an
Prinz William gesandt und ihren Bruder Ernst, der zur Zeit
den Feldzug in Frankreich mitmachte. — Man bahrte sie
auf und bedeckte ihren offenen Sarg mit Blumen und
Kränzen. Das feierliche Begräbniss sollte am Mittag stattfinden
. Einer der Aerzte, der junge Doktor Meineke,
hatte sich vorher in das Todtengemach begeben, um noch
einmal die Verklärte zu betrachten. Seit ihrem Tode war
er voller Unruhe, als mahne ihn sein Gewissen an eine
Schuld. Er hatte den letzten Blick der Sterbenden gesehen,
und wie über diese grossen, hellen, eigenthümlich aufblitzenden
Augen plötzlieh die Lider sich zum Verschluss
gesenkt. Waium, hatte er sich nachträglich gefragt, waren
diese Augen nicht, wie immer bei Sterbenden, gebrochen,
ehe sie sich schlössen? Dann erinnerte er sich seltsamer
Erscheinungen in den letztem Nächten vor ihrem Tode,
während er allein bei ihr gewacht. Im Bett der Kranken
hatte er ein Knistern \ernommen, ein Rauschen,
während sie doch unbeweglich dalag. Es war dann still
geworden; nachher aber vernahm er an der Wand, wo das
Bett stand, wieder ein Rauschen und Schairen, ein
Klopfen sogar, wie schwache Hammerschläge,
bis er sich mit seinem Gesicht über die Schlummernde
beugte, sein Athem unwillkürlich sie anhauchte. Dann
hörte das gespenstische Geräusch auf. Doch da er
keine vernünftige Erklärung für das Vernommene fand, so
grübelte er nicht weiter darüber nach. Erst am Tage, der
für die Beerdigung bestimmt war, kamen diese Erinnerungen
wieder über ihn und beschäftigten ihn so lebhaft, dass er
sich zu der Leiche begab, um seine aufgestiegenen Zweifel
darüber zu beschwichtigen, ob sie denn wirklich todt sei.
Und indem er sie lange aufmerksam betrachtete, glaubte
er es nicht mehr." (S. 816.) —
Wir glauben, dass hiermit das noch heutzutage
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