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314 Psychische Studien. XVI. Jahrg. 7. Heft. (Juli 1889.)
Auch für mich besteht ein Zusammenhang zwischen Mystik
und Irrsinn; aber meine Ansicht ist nicht, dass alle Mystiker
mehr oder weniger irrsinnig seien, sondern dass vielmehr
unter den Irrsinnigen häufig Mystiker, unbewusste Somnambulen
und Medien sich finden; dass in unseren Irrenhäusern
mystische Phänomene vorkommen, die aber leider nicht als
solche erkannt werden.
Wenn es schon im Allgemeinen richtig ist, dass die
Wissenschaft derMedicin eigentlich nur aus Hülfswissen-
schaften besteht, die allerdings zum Theile schon einen hohen
(irad der Ausbildung erlangt haben, dass aber eine eigentliche
Heilwissenschaft noch gar nicht existirt, sondern vielmehr
die grösste Zerfahrenheit und beständiger Modewechsel darin
herrscht, so gilt das speciell auch von der Psychiatrie.
Die Therapie des Irrsinns liegt noch in den Windeln, die
Irrsinnigen werden in der Hegel, schon von Beginn der
Krankheit an, mit grosser Resignation für unheilbar erklärt,
und der Arzt vermag den unheilvollen Verlauf der Krankheit
nicht zu hemmen. Die Naturheilkraft freilich thut
auch hier manchmal Wunder, und im Allgemeinen werden
ja die Irrsinnigen so untergebracht, dass sie vor äusseren
Steigerungsursachen der Krankheit bewahrt sind, so dass
der innere Arzt, der in jedem Organismus steckt, seine
Thätigkeit entfalten kann. Während Schopenhauer noch den
Aerzten vorwerfen konnte, dass sie die Naturheilkraft
leugnen, für die Leistungen derselben sich aber bezahlen
lasseL, ist die moderne Medicin in Anerkennung dieser
Kraft immerhin schon ziemlich weit gegangen, ja man setzt
sie bereits auf psychischem Wege, durch hypnotische
Suggestion, in Thätigkeit. Man betrachtet also den
menschlichen Organismus nicht mehr als eine blosse Retorte,
darin mit höllischen Latwergen chemische Experimente angestellt
werden können; man macht zwar dem im Publicum
noch immer eingewurzelten Vorurtheile des Apothekerwesens
noch Concessionen und verschreibt dem Patienten unschädliche
Mixturen, oft nur „ut habeat aliquid" (damit er Etwas
schlucke); im Allgemeinen aber ebnet man der Naturheilkraft
nur die Wege durch rationelle Lebensweise und entsprechende
Diät. Man ist auf Hippokrates zurückgekommen, welcher
meinte, die Natur sei der eigentliche Arzt, den zu unterstützen
die eigentliche und bescheidene Aufgabe des
Mediciners sei. Im Entwickelungsverlaufe solcher Anschauungen
muss aber die Ansicht Platz greifen, dass die
Krankheiten nur Krisen sind, die der innere Arzt hervorruft,
um das verlorene Gleichgewicht wieder herzustellen, dass
also viele Symptome nicht bekämpft werden dürfen, sondern
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