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318 Psychische Studien. XVI. Jahrg. 7. Heft. (Juli 1889.)
transcendeatale Bewusstsein wird dadurch aus seiner Latenz
befreit.
In diesem Sinne also lässt sieh von mystischen
Fähigkeiten im Irrsinn reden, die auf einen vom Irrsinn
nicht betroffenen geistigen Wesenskern des Menschen
schliessen lassen. Diese Polgerung ist nicht etwa neu.
Paracelsus sagt: — „Die Weisheit, so in den Narren auch
ist, bricht hervor, wie ein Licht durch ein Horn scheint,
dunkel und trübe; oder ein Licht, das in einem Nebel
steckt." — Es geht aber aus verschiedenen Stellen seiner
Schriften hervor, dass er damit nicht etwa stehengebliebene
Reste der normalen Fähigkeiten innerhalb des Wahnsinns
meint, sondern in der That mystische Empfindungen und
Wahrnehmungen, die dem normalen Menschen zwar auch
zukommen, aber unterhalb seiner Empfindungsschwelle verlaufen
, cl. h. unbewusst bleiben, im Wahnsinn aber, der die
Empfindungsschwelle verlegt, bewusst werden, und als
Reaktionen die mystischen Thätigkeiten hervorrufen. So
meint es auch Swedenborg, wenn er in einem Briefe an
Dr. Beyer sagt: — „Wahrheit und Wahnsinn haben in dem
äusseren, natürlichen, nicht in dem inneren, geistigen
Menschen ihren Sitz." — In diesen Aeusserungen wird also
ganz richtig die Narrheit als Krankheit des sinnlichen
Bewusstseins, des Hirnbewusstseins, angesehen, die aber das
transcendentale Bewusstsein intact lässt, ja ihm sogar zum
Durchbruch verhelfen kann.
Es konnte natürlich nicht fehlen, dass auch moderne
Aerzte das Aufleuchten geistiger Fähigkeiten innerhalb
der Nacht des Wahnsinns beobachteten. Beispiele davon
sind sehr zahlreich; aber in der Regel findet dabei eine
falsche Auslegung statt, weil eben die transcendentale
Psychologie nicht als bestehend anerkannt ist. Häufig wird
eine Steigerung der normalen Fähigkeiten vermuthet, weil
sich dieselbe einer physiologischen Erklärung leichter fügt;
denn wenn Blutzufuhr bei der Gehirnthätigkeit eine Rolle
spielt, so lässt sich leicht aus vermehrter Zufahr, etwa bei
Delirien, eine erhöhte Geistesthätigkeit ableiten. Diese Erhöhung
kann aber nur den Grad betreffen, bei gleichbleibender
Qualität; die eigentliche Mystik im Irrsinn bleibt von dieser
Erklärung ausgeschlossen.
Da übrigens diese Mystik im Irrsinn ihr ganz
unanfechtbares Gebiet hat, welches ganz und gar der
transcendentalen Psychologie vorbehalten bleibt,
so können wir auf dem Gebiete der noch zweifelhaften
Erscheinungen dem physiologischen Erklärungsprinzip
getrost reichliche Concessionen machen. In dieses
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