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du Prel: Die Mystik im Irrsinn.
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einheitliche Erklärung der Phänomene. Solehe schiefe
Ansichten sind eben nur möglich, wenn man die Phänomene
der Mystik nicht selbst beobachtet hat und die Literatur
nicht kennt, die seit Mesmer angewachsen ist, und wovon
die über den modernen Hypnotismus nur einen kleinen
und keineswegs den interessantesten Bruchtheil bildet.
Würde v. Hartmann die Phänomene und ihre Literatur
kennen, so würde er das transcendentale Subjekt finden
und die Nothwendigkeit, sein System umzuarbeiten, würde
ihm klar werden. Lombroso als Arzt aber würde, wenn er
den Somnambulismus studiren würde, den Weg erkennen,
den die Psychiatrie einzuschlagen hat, um Heilwissenschaft
zu werden, was sie heute ganz und gar nicht ist;
denn es kommen zwar viele Leute ins Irrenhaus hinein, aber
nur in seltenen Fällen wieder einer heraus. Inzwischen nimmt
der Irrsinn in einer dem Bevölkerungszuwachs voraneilenden
Progression zu, und die Psychiatrie steht dieser Erscheinung
völlig hülflos gegenüber, weil sie eigensinnig dabei beharrt,
das Problem mit dem falschen Schlüssel lösen zu wollen,
den ihr der Materialismus liefert, während doch jeder
Vernünftige, wenn sich ein Schloss nicht öffnen will, einen
anderen Schlüssel versucht.
Dr. Hahnemann berichtet über einen wahnsinnigen
Rechtsgelehrten, der mit besonderer Geschicklichkeit Lieder
dichtete und in Musik setzte, ohne dieses Talent je gehabt
/.u haben. Diese Fähigkeit müsste also Lombroso den unter-
sinnlichen Nervencentren zuschreiben. Nun zeigte aber
dieser Patient noch andere Fähigkeiten, die dem atavistischen
Verdachte nicht ausgesetzt sein können: die somnambule
Selbstverordnung und die Kopfuhr; in der höchsten
Verstandesverwirrung verordnete er sich ein musterhaftes
Recept, und jederzeit wusste er ohne Kalender noch Uhr
aufs genaueste Tag und Stunde,1) Diese Leistung eines
Irrsinnigen müsste also v. Hartmann entweder wieder auf
die Weltsubstanz abschieben, — was einer starken Ueber-
schätzung des Problems gleichkäme, — oder er müsste in
eben so fehlerhafter Unterschätzung des Problems diesen
Irrsinnigen auf gleiche Linie mit einem Hunde stellen, der
instinktmässig ein purgirendes Kraut frisst, sogar
solche Somnambulen, die ohne die geringsten technischen
Kenntnisse complicirte Apparate erfinden, wodurch sie
geheilt werden wollen, stünden bei der atavistischen
Erklärung nicht höher, als eine Kuh, die auf der Weide
*) Ziermann: — „Geschichtliche Darstellung des thierischon
Magnetismus als Heilmittel." 139.
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