http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1889/0422
414 Psychische Studien. XVI Jahrg. 9. Heft. (September 1889.)
Die Mystik im Irrsinn.
Von Dr. Carl du Prel.
III.
(Fortsetzung von Seite 371.)
Nach den jetzigen Grundsätzen der Medicin kann eine
systematische Therapie des Irrsinns nur in dem
Maasse erhofft werden, als die Physiologie des Gehirns
Fortschritte machen wird. Dass diese Aussicht ziemlich
trostlos ist, gehen die Psychiatriker seiher zu. Darum
verlohnt es sich wohl der Mühe, zu untersuchen, ob nicht
die Heilung auf anderem Wege zu erreichen ist* Es
scheint mir nun, dass, was wir suchen, eben in Verfolgung
des hier eingeschlagenen "Weges zu finden sein wird: es
muss die Verwandtschaft zwischen Irrsinn und Mystik aufgedeckt
werden, aber nicht im Süme der Rationalisten, die
alle Mystiker als Candidaten des Narrenhauses bezeichnen,
sondern in dem Sinne, dass wir gewisse Arten des Irrsinns
oder gewisse Stadien desselben als unbewussten Somnambulismus
und Mediumismus anerkennen.
Aber nicht nur bei den eigentlich mystischen Persönlichkeiten
, Somnambulen und Medien finden wir solche
Analogien mit dem Irrsinn, sondern schon in den Annähern
ngszuständen begegnen wir Phänomenen, die ihnen
mit dem Irrsinn gemeinschaftlich sind, — nicht mit dem
Irrsinn, insoweit er Krankheit ist, sondern insoweit sich
Autosomnambulismus in ihn einmischt. In dieser
Hinsicht muss also schon der gewöhnliche Traum Verwandtschaft
mit dem Irrsinn aufweisen. Ich habe in meiner
„Philosophie der Mystik" den Traum die Eingangspforte
zur Mystik genannt, weil wir schon dort in vereinfachter
Gestalt den Phänomenen des Somnambulismus begegnen.
Zunächst also würde es sich darum handeln, aus den
Analogien zwischen Traum und Irrsinn die
Berechtigung zu ziehen, diesen als einen wachen
Traum zu definiren. Diese Aehnlichkeit ist schon so oft
betont worden, dass ich mich auf wenige Worte beschränken
kann: —
Die Einbildungen der Irrsinnigen sind so lebhaft, wie
sinnliche Empfindungen, und auch die Träume stellen sich
uns mit dem grössten Schein von Realität dar, und sind
viel farbenreicher und plastischer, als Erinnerungsbilder und
Vorstellungen der machen Phantasie. Das Material unserer
Träume wird — wenn wir von den Erinnerungsfragmenten
aus dem Wachen absehen — von unseren leiblichen Em-
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1889/0422